Selfieking
Ich liebe den Radsport...

Diese Seite wird noch erstellt.

Hier findet ihr einen Teil der kleinen und großen Abenteuer, die ich bislang erleben durfte und die es in eines meiner Bücher geschafft haben...

Los geht´s - viel Spaß beim Lesen


Der Mont Ventoux

Natürlich bin ich vorher schon mal einen Anstieg hochgefahren, aber das hier war und ist ein richtiger Berg! Ein Mythos! Ein epischer Anstieg und eine brutale Herausforderung. Nur mal so zur Einordnung: mein „Trainingsberg“ - die Marienburg - ist 135 m hoch und der Anstieg ungefähr 2 km lang… der Mont Ventoux ist 1.912 m hoch und der Anstieg ca. 26 km lang! Da hatte ich mir also einen richtig dicken Brocken für meine „Premiere“ ausgesucht.

Im Sommer 2013 bin ich gemeinsam mit meinem Sohn Max von Sault aus gestartet, um den Riesen der Provence zu bezwingen. Was würde uns erwarten? Viel gelesen hatte ich, vom "Kiefernwald" war die Rede, von harten Teilstücken auf der ansonsten mit 7% im Schnitt eher nicht so beängstigenden Steigung und natürlich vom kargen Kalkfels, der nackten, weißen Kuppe mit dem Observatorium, wo unerträgliche Hitze und bisweilen heftige Winde den Radsportlern die Sinne rauben sollen. Ich konnte es kaum erwarten! Über das, was wir auf dieser Tour erlebt und gefühlt haben, habe ich seinerzeit einen kleinen Bericht verfasst…

Es war einer jener Tage, die dir für immer im Gedächtnis bleiben werden. Die sich einbrennen, die bleiben. Für alle Ewigkeit. Unauslöschlich. Die auch nach Jahren noch Gänsehaut hervorzaubern, sobald nur der Name dieses Berges erwähnt wird. Nach einem leckeren Frühstück fuhren wir bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen um die 30° Grad früh nach Sault, um von dort aus den Berg in Angriff zu nehmen. Von den drei möglichen Auffahrten sollte dies die „leichteste“ sein. Dafür war sie mit Abstand die längste…

Erst 20 Mal kam die Tour de France hier vorbei und doch ist der windige Berg, neben dem Col de Tourmalet oder Alpe d´Huez, einer der ganz großen Namen im Rennkalender. Jeder kennt ihn und wer immer diesen Berg bereits bezwungen hat, der gehört einfach dazu. Und heute - heute war mein Tag. Heute würde ich mir diesen Berg erobern. Darüber, dass ich ihn eroberte, gab es keinen Zweifel! Der Ventoux lag auf meiner Route, weil er mein Berg war! Er würde von mir bezwungen werden. Er wird mein, mein, mein!

Nachdem das Auto geparkt, die Räder startklar und noch ein Erinnerungsfoto gemacht wurde, ging es los. Und was sahen wir gut aus. Blitzeblank geputzte Räder, Profioutfit, Sonnenbrillen - was sollte da noch schiefgehen?

Na, wo ist hier der Gigant der Provence? Und dann stand er vor uns – der Mont Ventoux. Dieser Berg ist RIESIG! Er ist einfach nur dermaßen fett, dass mir die Spucke wegblieb. "Alter Schwede!", raunte ich mir in mein Trikot - da hoch? Mit dem Rad? Der Anblick war beeindruckend. Einschüchternd, präsent, riesig. Die Geschichten und Mythen ließen die Knie ein wenig schlackern, aber die Vorfreude war riesengroß und ich war schwer begeistert von der ganzen Umgebung. Die Atmosphäre in den Dörfern rund um den Berg ist grandios. Überall Rennradfahrer und alle haben nur ein Ziel, da hoch!

In den einschlägigen Foren sind eine Menge an Berichten und Geschichten zu finden. Ich war gespannt, was davon wirklich zutreffen würde. Zu unserer großen Überraschung gingen die ersten 1,5 Kilometer schon mal bergab. „Na herrlich“ dachten wir uns, wovor haben die anderen uns eigentlich immer Angst machen wollen? Läuft doch…Lavendelfelder sorgten nicht nur für eine interessante Optik abseits der Strecke, sondern verbreiteten auch auf den ersten Kilometern einen entsprechend intensiven Begleitgeruch. Den Blick auf den Gipfel suchten wir aber nach wie vor vergebens...

Der Ventoux ist hier ein sanfter Riese. Er gibt nicht mit tiefen, senkrecht unter dem Radler abfallenden Tälern an. Kein atemberaubender Blick lenkt ab. Alles am Ventoux ist auf Understatement getrimmt: links und rechts könnte der Kiefernwald auch der Insel Rügen entlehnt worden sein, die kleine Straße schlängelt sich verträumt harmlos durch grüne Idylle, keine Tour-Angeberei, nichts lenkt ab, nichts fasziniert. Aber das sollte sich bald ändern…

Ein großes Stück Extra-Motivation holten wir uns aus den immer wieder tollen Ausblicken an nicht ganz so dicht bewaldeten Streckenabschnitten, wo auch mal angehalten und ein Foto gemacht wurde. Je höher es ging, umso mehr lichtete sich der Wald und die ersten Wohnmobile waren am Straßenrand zu sehen. Die drei Tage später stattfindende Tour de France-Etappe warf bereits deutlich ihre Schatten voraus. Warum aber alle so einen Hype um diesen Berg machten und während der Tour-Etappe zu Tausenden am Straßenrand standen, dass erschloss sich uns (noch) nicht. Es sah ja auch irgendwie noch gar nicht so richtig nach einem Berg aus. Aus den Fernsehübertragungen kannte man die berühmte kahle Spitze des Mont Ventoux und sah die Fahrer sich durch die sengende Sonne quälen - und wir fuhren hier im Wald bei angenehmen Temperaturen und sahen den Gipfel nicht…

Das sollte sich aber noch ändern, denn wie wir nach (!) unserer Tour in verschiedenen Reiseberichten gelesen haben, hat die Auffahrt von Sault zwei völlig unterschiedliche Gesichter. Zunächst moderat ansteigend, auf perfektem Asphalt und gut geschützt vor Wind und Sonne im Wald und dann das andere Extrem, welches noch auf uns wartete.

Nach knapp 20 Kilometern Anstieg und 725 absolvierten Höhenmetern durchfuhren wir eine lange Rechtskurve und dann stockte plötzlich der Atem. Schlagartig lichtete sich der Wald und wir erreichten Le Chalet Reynard. Adrenalinschübe hoben die Motivation, ein Blick, ungläubiges Staunen und alles bisher Gewesene war Makulatur, denn hier vereinen sich die Auffahrten aus Bedoin und Sault zum gemeinsamen Schlussanstieg. Jetzt kam der Teil, der zur Berühmtheit des Berges beigetragen hat. Hier begannen die beschriebenen Geschichten, die Fernsehübertragungen, die Leiden, eben alles, was diesen Anstieg ausmacht. Kein Baum, kein Strauch und kein Grashalm waren hier oben zu sehen. Nur Steine. Und man sah jetzt auch den Gipfel, jederzeit, da half nur nach unten auf die Straße, zum Vordermann oder in die Landschaft zu schauen. Und sowohl von der Straße, als auch von Vordermännern und vor allem von Landschaft gab es reichlich. Bekannt aus vielen Tour de France Übertragungen kam nun der schwierigste Aufstiegsweg und wir befanden uns mittendrin in der kahlen und unwirklichen Mondlandschaft.

Die Steigungen wurden nun deutlich giftiger, unser Rhythmus war weg, die Trittfrequenz sank in den Keller, aber immerhin hatten wir das Ziel jetzt im Blick…an diesem Zustand änderte sich auch so schnell nichts, denn man hatte plötzlich den Eindruck, der Gipfel würde kein Stück näher kommen. Wie eine Schlange windet sich die Straße am Berg entlang und obwohl man Kehre für Kehre hinter sich bringt, scheint der Gipfel in gleicher Entfernung zu verharren. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sich etwa 7 km Strecke so lang anfühlen können. Die Steigung fiel nicht mehr unter 10 % und die Sonne brannte unbarmherzig auf uns herab. Unweigerlich erinnerte ich mich an den berühmten Satz von Udo Bölts 1997 zu Jan Ullrich: „Quäl dich, Du Sau!“ schrie er ihn damals an. Und genau das taten wir. Wir quälten uns. Schweiß tropfte, der Herzschlag ging in den Hals, die Beine brannten, Wiegetritt. Ich suchte mir Ziele. Bis zur nächsten Kurve, zum nächsten Wohnmobil, die Landschaft wurde unwichtig. Endlich fand ich den Rhythmus aus Atmen und Treten. Und ja, es stimmte, jeder Kilometer brachte uns 100 Höhenmeter dem Ziel näher. Unzählige Radler versuchten ihr Glück, Überholvorgänge glichen Schneckenrennen und hier und da standen Begleiter mit ihren Fahrzeugen an den Parkbuchten und feuerten die Fahrer an.

Noch sechs Kilometer. Die Oberschenkel brannten, das Tempo sank auf unter zehn. Kein Schatten mehr, nur noch Geröll, Schweiß in den Augen und ein jämmerliches Gefühl im Bauch. Unsere Trinkflaschen waren leer und nun mussten wir auch unserem übermütigen und viel zu hohen Anfangstempo Tribut zollen. Auch war deutlich zu merken, dass unser Frühstück schon Stunden zurücklag und so wurden die letzten Kilometer doch eine ordentliche Schinderei. Sechs Kilometer in der Sonne, ohne Kraft und ohne Trost. Keine Camper mehr am Straßenrand, weil es keinen Straßenrand mehr gab. Nur Steine und Hitze. Und heute noch nicht mal Wind am sonst so stürmischen Ventoux. Der Schweiß lief in Strömen, ich musste hecheln, die Lunge brannte, als würde ich in den nächsten Minuten die Lungenbläschen einzeln aushusten. Wir wurden hier oben getäuscht. Denn auch wenn der Berg hier nun immer wieder das Ziel präsentierte, es uns vor die Nase hielt, wie Eseln die Karotte, so kamen wir der Antenne, dem Ziel unserer Mühen, doch scheinbar nicht näher: Es zog sich einfach. "Mann, ist das eine Fata Morgana?", beschwert sich Max. Und Recht hat er: Kaum noch unterscheidbar die letzte Kurven-Rampen-Kombination von der jetzigen. Und von der Kommenden. Kaum näher. Kaum Meter. Treten wie im Hamsterrad. Wollten die uns hier veräppeln? 

Schaute ich nach unten, wirkte die Welt am Grunde des Tales so sonderbar entrückt. So klein. So fern. So weit weg. Unerreichbar. So weit oben schon? Den Wolken so nahe. Schaute ich aber nach oben, nahm es mit fast den Mut: So weit noch nach oben?

Da ist erst der Gipfel? So klein noch? Aber absteigen und schieben? Niemals!!! Volle Konzentration auf das rotieren des Kettenblattes. Weiterfahren? Kopfsache! Stoisch kurbelten wir weiter. Wir redeten nun kaum noch. Jeder fuhr nun ganz für sich. Ich war überwältigt von der Schönheit dieses Anblickes. Immer und immer wieder. Und in immer kürzeren Abständen hielt ich an und machte Fotos. Ich glaube, Max verfluchte mich in diesen Momenten…denn jedes Mal hieß es dann wieder bei dieser Steigung anzufahren. Aber diese Ausblicke waren einfach Atemberaubend.

Und dann stand er plötzlich und unvermittelt da: der Fotograf, an dem auf ihrem Weg nach oben alle vorbei kommen und versuchen, dabei halbwegs gut auszusehen…also raus aus dem Sattel, ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt und kurze Zeit so tun, als wäre das alles hier ganz einfach. Kaum war das Foto im Kasten, wieder hinsetzten und wieder angestrengt gucken dürfen. Aber dieser kurze Moment, der hatte sich gelohnt…

Und so, wie ich nun bei jeder Kurve diese Antenne näher kommen sah, sah ich auch mehr und mehr den Erfolg näher kommen. Das war heute ein richtig guter Tag. Die nächste Pause folgte am Denkmal des verstorbenen Radprofis Tom Simpson. Es ist das Denkmal, dass jeder Rennradfahrer einmal sehen und auf sich wirken lassen sollte, denn hier, genau an dieser Stelle, ist er im Jahre 1967 gestorben.  Seit dem sie hier das Denkmal für Simpson erbaut haben, ist es schöne Tradition, dass die Rennradler, die hier vorbeikommen, eine Flasche Wasser, ein Gel-Pack oder sonst etwas, das der gute Mann hätte gebrauchen können, auf dem Sockel seines Denkmals stehen lassen. Wir lassen eine unserer leeren Flaschen hier und denken über die Frage nach, wie weit Menschen gehen, für einen Sieg, für ein bisschen Geld, für ein bisschen Ruhm. Scheiß Doping!

Noch einmal besah ich den Granit. Wahnsinn, was die Leute hier ließen: Schläuche, Reifen, Riegel, Flaschen…Ich fragte mich, wie oft sie das alles hier wegräumen müssen? An Tagen wie diesem, an denen Hunderte hier hochpilgern, wahrscheinlich täglich. Und was die wohl mit dem ganzen Zeug machen? Während wir so vor uns hin sinnierten, merkten wir nun ziemlich deutlich den Mistral - einen sehr kalt wirkenden Wind. Also hieß es Weste an und weiter. Weit war es ja nicht mehr…hier oben merkte ich dann auch, wie die Luft langsam dünner wurde und jede Pedalumdrehung wehtat. Meine Beine wollten und konnten eigentlich nicht mehr, aber es waren nur noch zwei Kilometer.
Dann nur noch einer. Immer wieder fesselte mich der Ausblick. Wahrlich erhebend. Kein anderer Berg trübte die Sicht - da sah man mal wirklich, was 2.000 Meter sind - im Gebirge merkt man die Höhe meist nicht. Da gibt es links und rechts weitere hohe oder gar höhere Berge. Hier aber, hier oben sah ich, was es bedeutet.

Ich liebe die Berge. Die Steilheit. Die Einsamkeit. Ich liebe es, mich langsam kurbelnd hochzuarbeiten. Mich zu verlieren, weg zu träumen. Doch, was man in den Hochgebirgen nicht bekommt, der Ventoux liefert es: Das Gefühl von Höhe. Da der Berg fast allein in einer ansonsten eher flachen Umgebung steht, ist der Ausblick von dort einfach nur wunderschön! Kein Vergleich zum langen Abschnitt im Wald…Dann zwei Kehren noch.

Es folgte eine harte Rechtskurve und die nun wirklich allerletzte Rampe. Dass die nochmal 15 % hatte, war eigentlich egal, denn diese letzten 30, 40 Meter flog nun jeder, buchstäblich jeder, einfach nur noch hoch. Wer immer diese letzte - extrem steile - Kurve schon mal mit dem Rad absolviert hat, der wird wissen, wie wir uns in diesem Moment gefühlt haben. Hier endete der Aufstieg, direkt unter der Antenne. Ein kleiner Parkplatz, ein kleines Schild. Nach etwa 3 Stunden erreichten wir schließlich erschöpft, aber überglücklich und stolz die Ziellinie am Gipfel. Der Turm auf dem Gipfel ist hässlich. Die Farbe blättert, die Fenster sind schmal wie Schießscharten. Aber die Aussicht ist atemberaubend. Kein anderer Berg verstellt das 360-Grad-Panorama: Im Osten leuchteten verschneite Alpengipfel in der Sonne, im Süden glitzert blau das Mittelmeer. Im Westen ist das Rhonetal zu erkennen. So standen wir minutenlang am berühmten Kilometerstein in der Sonne, genossen diesen Panoramablick bei blauem Himmel und schwiegen. Uns stand dieses einmalige Grinsen im Gesicht, mit dem sie hier oben alle herumliefen. Es war diese Zufriedenheit, diese Gewissheit, etwas geschafft zu haben, das ein Großteil der Leute da draußen nicht schaffen würde. Wir haben uns der Vertikalen gestellt. Und wir haben sie gemeistert. Welch ein unbeschreibliches Gefühl!

Geschafft, wir haben diesen elenden Schweineberg geschafft, irgendwie. Ein Moment für die Ewigkeit. Da unten, knapp 2.000 Meter unter uns, da haben wir vor einigen Stunden unsere Fahrt, unser Abenteuer, unseren Siegeszug begonnen - da hinten, da, ganz klein - war das nicht Sault? Dann stieß Max einen Jubelschrei aus, der zwei ältere Damen erschrocken dazu brachte, ihre kleinen Hunde auf den Arm zu nehmen. Er grinste mich an. Und ich freute mich mit ihm - freute mich über uns, unseren Tag, unseren Trip und dieses herrliche Wetter. Dieser Tag heute war für uns ein perfekter Tag!

Es war unser Tag!

„Papa, ich bin auf dem Mont Ventoux“ rief er ungläubig und ich glaube, wir beide verdrückten in diesem Moment eine Träne. Jetzt konnten wir das Panorama richtig genießen. Als wir uns dann umsahen, nahmen wir zum ersten Mal diesen unglaublichen Trubel hier oben wahr. Heerscharen von Touristen, Auto-, Motorrad- und Rennradfahrern bevölkerten den Gipfel. Wahnsinn, fast wie auf einem Jahrmarkt.
Also beschlossen wir, diesem Gewusel den Rücken zu kehren, wieder zum Chalet Reynard herunterzurollen und dort erst einmal gemütlich etwas zu essen und zu trinken.

Wir ließen uns die richtig dick mit Schinken und Käse belegten Sandwiches schmecken und genossen bei diesem fantastischen Ausblick unsere eiskalte Cola. Manchmal kann das Glück so einfach sein…Nachdem wir uns gestärkt hatten, ging es auf dem nun schon bekannten Weg wieder zurück nach Sault. Und waren wir am Anfang noch recht vorsichtig bergab unterwegs, so wurden wir von Kurve zu Kurve mutiger und fuhren uns fast in einen Rausch. Ziemlich schnell waren wir wieder am Fuß des Berges angelangt und wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten wir das direkt nochmal von vorn anfangen können… ich hatte richtig Blut geleckt. Die Legende Mont Ventoux - ich machte ein Kreuz. Mein erster richtiger Berg. Erledigt. Gemeistert. Genial! Der heutige Tag war der perfekte Radsporttag. Am Abend saßen wir beim lauen, drückenden Abendlüftchen auf unserer Ferienhausterrasse, gönnten uns einen riesigen Berg Nudeln und schauten in der Ferne auf „unseren“ Berg und waren zufrieden. 

Und obwohl nun bereits wieder einige Zeit vergangen ist, zehren wir noch immer von den Erlebnissen und können mit Fug und Recht behaupten:

Schmerz vergeht - Stolz bleibt!

 
Das Stilfser Joch

Jeder hat Träume – doch oft spielt die Zeit gegen den Träumenden. Vor allem, wenn man von großen Herausforderungen träumt. Deshalb sollte man bei immer wiederkehrenden Träumen vor allem eines tun: sie wahr werden lassen. Nicht nach Ausreden suchen, nicht zu weit, nicht zu teuer, nicht zu schlecht in Form – machen! Im schlimmsten Fall wird es eine Erfahrung. Und das ist es doch wert, oder?

Mein Traum wurde wahr... als Königsetappe und absolutem Höhepunkt unserer Reise nach Südtirol ging es am 27.08.2017 die berühmten 48 (!) Kehren hinauf zur Königin der Alpenstraßen… dem Stilfser Joch. Wir, das waren Claudia, Uwe-Georg, Kai-Peter und ich. Es gibt so einige Pässe, die man als Rennradler im Leben gefahren haben muss. Dazu gehört eindeutig das Stilfser Joch!

Der „Passo dello Stelvio“ wie er im Italienischen auch genannt wird, ist lt. Wikipedia der höchste Gebirgspass in Italien und der zweithöchste asphaltierte Gebirgspass in den Alpen. Nur der Col de l'Iseran ist noch lächerliche 13 m höher. Die durchweg gute Streckenbeschaffenheit, sowie der grandiose Ausblick in das Ortlergebirge führten auch dazu, dass Top Gear diese Passstraße zur schönsten der Welt erklärte. Und die hatten verdammt noch mal Recht!

Es gibt wenige Momente, die mich nach nunmehr fast 7 Jahren, die ich intensiv Rad fahre, wirklich so richtig und restlos begeistern. Sprachlos machen. Ich meine, wirklich so grenzenlos begeistern, wie es damals war, als ich mir mein erstes Rad zulegte, die paar Kilometer nach Hause fuhr und so durchweg fasziniert war, dass ich dachte: „Ich bin noch nie auf einem Pferd geritten, aber so muss sich das anfühlen, wenn man absitzt nach einem Höllenritt, froh ist, den jungen Mustang überlebt zu haben …“.

Oder wie damals, 2013, als ich nach meinem Sturm auf den Mont Ventoux so freudig vibrierend, glücklich und aufgekratzt war und mir das Adrenalin literweise aus den Ohren lief. Diese Sprachlosigkeit erlebte ich am Stilfser Joch. In der gesamten Alpenliteratur wird das Stilfser Joch hinsichtlich seiner landschaftlichen Schönheiten in den höchsten Tönen gelobt. Ein Autor beschreibt es mit „Die Königin der Alpenstraßen“, ein anderer nennt den Nordanstieg „Stairway to Heaven“, Led Zeppelin lässt grüßen.

Ich weiß gar nicht mehr genau, wie wir darauf gekommen sind, aber irgendwann unterhielt ich mich mit Kai-Peter, dass ich unheimlich gern mal das Stilfser Joch bezwingen möchte…er schaute mich an, grinste und meinte „ich auch“ und nun war es soweit. Aus meinem Rennradhighlight des Jahres, bei dem ich diesem Berg mal zeigen wollte, wie ein windgestählter Laatzener die paar Höhenmeter abspult, wurde dann eher ein: „hoffentlich komme ich oben an, ohne schieben zu müssen“. Blut, Schweiß und Tränen… naja, ganz so schlimm war es nicht, aber wer immer dort mit dem Rad schon mal hochgeradelt ist, weiß wie wir uns gefühlt haben...denn das Stilfser Joch ist hoch. Richtig hoch. Und lang, sehr, sehr lang. Ach ja…und steil…so etwas macht süchtig.

Klar, es gibt höhere, längere und steilere Pässe auf der Welt, aber wenn diese ihre Superlative und Rekorde einmal verpulvert haben, bleibt – wenn sie einmal bezwungen wurden – selten mehr hängen, als ein Eintrag im Tagebuch. Wer erkennt schon ohne Hilfe auf Fotos den Gipfel des Col de Tourmalet? Oder Alpe d´Huez? Das ist hier ganz anders. Auf das Stilfser Joch zu fahren ist etwas, das man nie mehr vergisst. Diese Bilder brennen sich ein und sind auch Jahre später noch präsent, wenn nur der Name erwähnt wird. Es ist wie der Ritterschlag für Rennradfahrer. Wer hier hochgefahren ist, der gehört dazu. Bei wirklich traumhaften Bedingungen und strahlendem Sonnenschein rollten wir zunächst von Glurns nach Prad, um dann von dort aus das Stilfser Joch zu erklimmen. Die ersten 6 km verflogen mit seichtem Rückenwind und ein klein wenig Gefälle. Ideal, um die Beine auf die kommende Tortur vorzubereiten und aufzuwärmen. Allerdings stieg meine Nervosität von Meter zu Meter. In Prad angekommen ging es rechts ab auf die SS38 in Richtung Joch. Gleich nach der Kreuzung vernahmen meine Waden die ersten Höhenmeter der Tour, ganz seicht, nichts Fieses, aber es ging bergan.

Am Ortsausgang dann das bereits hundertfach gesehene Schild: „Passo Stelvio Aperto“ - der Pass war offen und befahrbar. Natürlich mussten wir kurz anhalten und ein Erinnerungsfoto schießen. Und dann ging es los. Zunächst führte die Straße ohne großen Zickzack dahin, man konnte sich geistig wie körperlich noch recht entspannt auf das Abenteuer vorbereiten. Auf den ersten Kilometern begleitete uns der breite Suldenbach, wir überquerten ihn mehrfach. Die Gischt von kleineren Wasserfällen sorgte stellenweise für kalte und feuchte Luft über der Fahrbahn, eine sehr willkommene Erfrischung. Wie vorher besprochen, trennte sich hier unsere kleine Gruppe, denn jeder sollte sein Wohlfühltempo fahren. Auf den 6 km bis nach Gomagoi sammeln sich bereits 335 Höhenmeter an und auch mein Puls kam langsam, aber sicher in Wallung.

Spätestens bei der Überquerung des Baches bei der „Stilfser Brücke“ musste ich mir eingestehen, dass das von mir angeschlagene Tempo zu viel sein würde - wenn ich oben nicht komplett platzen wollte, dann musste ich etwas langsamer machen. Ich fluchte. Warum macht man eigentlich immer wieder dieselben Fehler? Wirklich jeden Berg, an dem ich mich bislang versucht hatte, bin ich viel zu schnell angegangen und musste früher oder später dafür büßen. Merker fürs nächste Mal: langsam beginnen! Ab jetzt galt für mich die eiserne Regel beim Klettern: Unbedingt eigenes Tempo fahren! Auch wenn sich die Kompakt-Kurbel die ersten Kilometer leichtfüßig drehen lässt wie ein norddeutsches Offshore-Windrad bei Sturm - glaubt mir, es sind nur die Endorphine. Alle Pässe ziehen sich - und mir jedes Mal die Körner aus den Beinen. 10, 15 und manchmal über 20 Kilometer permanent bergauf. Das sind eineinhalb bis zweieinhalb Stunden in der Senkrechten! Pro Pass! Also: langsam machen und genießen!

Mein Garmin zeigte bereits 170 Herzschläge/min an und ich musste auf ein größeres Ritzel schalten - mein vorletztes Ritzel, um genau zu sein. Nach wenigen Kilometern war ich bereits kurz vor dem Rettungsritzel angekommen - „na, das kann ja heiter werden“ dachte ich mir. Noch nicht mal richtig im Berg und schon kurz vor der Kapitulation. Ich zweifelte. Ich hatte mich so intensiv wie noch nie vorbereitet, im Vorfeld tausende Kilometer abgespult, war ausgeruht und voller Tatendrang und Zuversicht. Und doch schon kurz vor dem Limit. Und wo zum Teufel waren denn die verdammten 48 Kehren?Ich schaute links, ich schaute rechts, ich schaute nach vorn… tolle Straße, schöne Steigung, fantastische Landschaft, aber keine Spur von den berühmten Kehren. Waren wir überhaupt auf der richtigen Strecke unterwegs? Habe ich vielleicht ein Schild übersehen?

So fuhr ich dahin, Meter um Meter, Kilometer um Kilometer wuchsen meine Zweifel. Wo blieb bitte das tolle Panorama, der Anblick, der jeden in seinen Bann zieht? Wo waren die Ausblicke, die man in jedem Bildband zu sehen bekam? Kurz darauf erreichte ich das Dörfchen Gomagoi, das im Sommer wie ausgestorben ist. Ich fuhr auf einen linksseitig gelegenen Parkplatz und wartete auf meine Mitstreiter. Was war das beruhigend zu sehen, dass nicht nur die anderen vorbefahrenden Rennradfahrer, sondern auch Claudia, Uwe-Georg und Kai-Peter ordentlich pusteten und schwitzten und es ihnen anscheinend ähnlich ging, wie mir. Gerade hier im unteren Teil der Strecke war die Versuchung wirklich groß, ein viel zu hohes Tempo anzuschlagen. Wenig Steigungsprozente, toller Asphalt, noch sehr angenehme Temperaturen. Und dann dieser Jagdinstinkt, sobald man in der Ferne ein Hinterrad entdeckt…

Claudia rief „das Leben ist schön“, was mittlerweile wirklich zu einer Art geflügeltem Wort unserer Bergfahrten geworden ist und ja, sie hatte so was von Recht. Wir durften hier bei besten äußeren Bedingungen einen der schönsten Berge der Welt befahren. Was konnte es schöneres geben? Wir lächelten uns an und nach einer kurzen Pause ging es weiter.

Und da endlich sah ich dann das erste Schild:

„Jetzt geht’s los!“ Der eigentliche Anstieg begann, der Countdown lief. Und plötzlich waren auch alle Zweifel weg, die Beine kurbelten, der Puls pendelte sich ein und die Zuversicht in die eigene Stärke war wieder da. Ab hier hieß es dann: "Zählen, bitte!" Von hier aus wird auf Schildern von 48 rückwärts gezählt, was motivierend und frustrierend zugleich sein kann - je nach persönlichem Trainingszustand. 48…47…46…dann erstmal wieder lange nichts.

Zwischen den einzelnen Kurven gab es auf diesem Abschnitt sehr lange Geraden und ich merkte, dass ich mir (auch diesen) Anstieg ganz anders vorgestellt hatte. Keine schnelle Abfolge von Kehren wie an der Silvretta-Hochalpenstraße, sondern eher sanft geschwungen mit langen kurvenfreien Stücken ging es bergauf. Bis zur Kehre 31 führte die Straße nun durch den Wald und nach dem ersten Drittel ging mir durch den Kopf: "Kann nicht mehr so schlimm werden."

Oh doch! Denn nun änderte sich das Profil und die jetzt fast endlose Serie von Serpentinen gab mir ein wenig das Gefühl, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Und ja, es war wirklich scheiße steil!!!

Der Schweiß lief in Strömen, die Luft wurde dünner und kein flaches Stück in Sicht, um sich mal kurz zu erholen. Und noch immer war ich im bewaldeten Stück unterwegs. Das bekannte Postkartenmotiv mit den Kehren des finalen Stücks und dem freiem Blick auf die umliegenden Berge wartete noch in weiter Ferne.
Und obwohl ich mich hier abmühen musste, obwohl meine Beine brannten, meine Handschuhe so nass waren, dass sie gar nicht mehr sicher den Lenker greifen konnten, obwohl mein Herz nahe der 200er Marke war, meine Speiseröhre trocken wie die Wüste Gobi und mein Kopf leer wie das All war - trotzdem genoss ich dieses Stückchen Einsamkeit - gleiten durch das Nichts.

Erholung im Schmerz.

An der Kehre Nummer 24 hatte ich die Baumgrenze bei gut 2.000 Metern längst überschritten und es eröffnete sich der Blick auf den berüchtigten Schlussanstieg. Ab jetzt wurden die Landschaft ausgesetzter und die Serpentinen spitzer. 24 Kehren hatte ich hinter mir, 24 Kehren lagen noch vor mir. Also Halbzeit. Erst Halbzeit. Wieso erst?

Ja, es war anstrengend, aber es war wunderschön! Und es war ein Kampf. Ein wunderschöner Kampf! In jeder Innenkurve aus dem Sattel gehen und drücken, dann wieder setzen und weiter kurbeln, dann endlich ein kleines Flachstück in Form der Außenkehre und nun mit Schwung weiter kurbeln bis das Spiel wieder von vorn begann.
Durch die extrem verschlungene Straßenführung machte ich auf kleinstem Gebiet ordentlich Höhenmeter gut. Ich war nun knapp 2 Stunden lang bergauf unterwegs gewesen und brauchte eine kleine Pause. Ich suchte mir eine nette Kehre mit einem guten Ausblick und klickte aus. Endlich mal wieder stehen, aufrichten, den Rücken durchdrücken und jeden einzelnen Wirbel spüren. Und nun war Frühstückszeit. In meinem kleinen Rucksack hatte ich zwar kein Trinken mitgeführt, wohl aber eine kleine Ration an Riegeln.

Der Moment, wenn Du in dieser Landschaft, mit diesen Strapazen, die Aussicht genießt und in einen Riegel beißt - unvergleichlich!

Links von mir erhob sich das schneebedeckte Ortlermassiv auf fast 4.000 Meter Höhe. Ich saß auf einem kleinen Mauervorsprung, ließ die Beine baumeln, genoss diese fantastische Aussicht und blickte zurück auf die bereits absolvierte Strecke. Es war fast windstill und herrlich sonnig, so hätte ich hier stundenlang sitzen bleiben können. Unter mir quälten sich hunderte weitere Rennradler Kehre für Kehre nach oben. Ein wahrlich erhebender Anblick. Aber auch erschreckend. Es war später Vormittag und wenn man hier herunter schaute, dann waren hunderte Rennradfahrer im Aufstieg. Ein absurdes Bild. Die vielen Rennradler, Motorräder, Autos und Busse fuhren hier hoch, um diesen Berg zu bezwingen. Nicht, weil sie von A nach B mussten, sondern zum überwiegenden Teil aus reinem Vergnügen. Eine komische Form von Massentourismus.

Nachdem ich dann noch den Inhalt meiner ersten Trinkflasche im Gebirge gelassen hatte, schwang ich mich wieder auf mein Rad. Anfahren bei fast 10% Steigung ist auch eher etwas für Masochisten und beinahe wäre ich einfach umgekippt. Wer kommt auch auf die blöde Idee, in einem der steilsten Stücke der Strecke anzuhalten und Pause zu machen?

Da mich während meiner kurzen Auszeit mehrere Radfahrer überholten, konnte ich direkt mit der „Verfolgungsjagd“ beginnen. Die ersten drei konnteich nach ca. 200 m stellen und überholte sie mit dem Gefühl, gerade das gepunktete Trikot der Tour de France gewonnen zu haben. Kraftvoll und breit grinsend zog ich an ihnen vorbei. Weiter vorn erblicke ich einen weiteren Rennradler. "Ruhig, Brauner, ruhig!", redete ich mir ein, denn alles in mir schrie: „ANGRIFF!“ Ich zog nur unmerklich mein Tempo an. Irgendwann hatte ich ihn dann. Ich zog sanft, aber stetig an ihm vorbei, nickte ihm kurz zu, Steigung, runterschalten, reintreten, Scheitelpunkt, hochschalten, Unterlenker und ab ging die Luzie. Ich drehte mich kurz um - weg war er. Ich grinste breit…Was ich jedoch vergaß, war, dass ich nun auch weiter so souverän fahren musste, wie vorab, andernfalls drohte die Schande des wieder Überholt werdens. Ein Blick nach hinten verriet mir allerdings, dass mein Verfolger zum Glück nicht mehr auf der Höhe seiner Kräfte war und sich eine Auszeit gönnte - puh, Glück gehabt.

Was folgte, war das aus unzähligen Bildbänden bekannte Motiv, dass dem Joch zu seiner Berühmtheit verhalf. Die verbleibenden Spitzkehren verliefen im steten Zickzack am kahlen Berghang zum Gipfel - das bekannte Postkartenmotiv auf den abschließenden Steilhang, wo mit 20 Serpentinen auf 6 Kilometern nochmals gut 600 Höhenmeter gewonnen werden. Der Blick ist frei und man ahnt, was tatsächlich noch alles auf einen zukommt und hat doch überhaupt keine Ahnung.

6 Kilometer, die garantiert wehtun werden, aber auch ganz sicher zum Spektakulärsten gehören, was es auf dem Rennrad zu sehen und zu erleben gibt. Kaum vorstellbar, dass sich diese Steilwand mit dem Rennrad bezwingen lässt, denn das Stilfser Joch wirkt von hier aus wie eine steinerne Mauer - unüberwindbar.

Meine Gemütslage schwankte irgendwo zwischen „wie geil ist das denn“ und „wann ist das hier endlich vorbei?“.

Rund zwei Drittel der Höhenmeter waren schon geschafft. Ab jetzt hatte ich das Ziel stets vor Augen, eher motivierend als abschreckend, denn bis jetzt lief es bei mir erstaunlich „rund“. Ich hatte nach dem anfänglichen Übermut mein Tempo und meine Trittfrequenz gefunden  und freute mich einfach über das hier und jetzt. Dann hatte ich die Kurve Nummer 22 erreicht, hier steht das Hotel „Franzenshöhe“, nun wurde es wirklich ernst. Ab hier fiel die Steigung nicht mehr unter 10%. Und noch 21 Kehren bis zum Ziel…

Wie an den Fels geklebt, windet sich die Straße fast senkrecht gen Himmel. Ich suchte jede Kehre nach ihrer Nummer ab und versuchte, mich nicht von den vielen Autos und Motorrädern ablenken zu lassen, die hier oben große Schwierigkeiten hatten, in den Serpentinen ihre Spur zu halten. Und auch, wenn es  ringsherum viel zu sehen gab, hieß es die Konzentration hoch zu halten…treten und Atmen, treten und Atmen…Ich war dann auch immer wieder hin- und hergerissen, zwischen dem Drang Anzuhalten und ein Foto des atemberaubenden Ausblicks zu schießen oder weiterzufahren und nicht erneut am Berg anfahren zu müssen.

Einige der Rampen ließen die Anzeige der Steigung im Garmin auf Werte bis zu 15 % hochschnellen. Hier galt es dann möglichst weit im Kurvenäußeren mein Glück zu suchen. Faszinierend, diese Steilheit. Aber irgendwie auch pervers. Die Fotos können leider nicht annähernd wiedergeben, wie steil die Rampen wirklich waren. Der Anblick der noch zu fahrenden Kehren war ernüchternd. Am besten einfach nur treten und den Ausblick genießen. Wer immer diese Straße gebaut hat, er muss ein wahrer Künstler gewesen sein.

Es wurde steiler und steiler. Die Hänge, an denen ich fuhr, fielen richtig tief ab. Die Steigungen wurden länger und länger und die Ausblicke, die ich nun genießen konnte, immer spektakulärer. Ich war nun mitten drin, im schönsten und schwersten Teil des Anstiegs. Besonders paradox fand ich, dass es sich anfühlte, als könne man in den steilen Kurven beschleunigen. Tatsächlich hatte ich am Kurvenausgang regelmäßig das Gefühl, ich könnte das Rad für wenige Meter rollen lassen, bevor es wieder steil wurde.

So kletterte ich Meter für Meter vor mich hin und hatte die ganze Zeit ein breites Grinsen im Gesicht. Was konnte es schöneres geben, als sich hier und heute diesen Traum zu erfüllen?

Ich genoss jeden Augenblick. Ich dachte wieder daran, wie mein Arzt mir 2012 erklärte, dass ich mit Ausdauersport anfangen sollte. Und wie ich mich damals überwinden musste. Wenn er mich jetzt sehen könnte…er würde es nicht glauben. Weil ich es selbst kaum glauben konnte. Ich fühlte mich in diesem Moment lebendig wie nie.

Dieser Anstieg war nichts für Schwächlinge, das merkte ich gleich. Es ging fast senkrecht nach oben. Selbst meine - wie sagte mein Rennrad-Verkäufer so schön? - "Kletterhilfe", das kleinste Ritzel also, war hier an der Belastungsgrenze. Ich ging ab und zu in den Wiegetritt und schon schmerzten nach wenigen Metern die Waden. Es war anstrengend wie nie, sich diese Straße hinaufzuschieben. Das Ding verlangte alles! Aber es war so schön.

Unzählige Rennradler, die unten am Fuß des Berges an mir vorbeigerauscht waren, wurden nun von mir überholt. Ich sah in leere Augen, sah einige völlig entkräftet am Straßenrand stehen, einige schoben bereits ihr Rad. Und ich? Ich hatte wieder diesen Zustand erreicht, in dem die Leichtigkeit da war, in dem es einfach lief. Der Schweiß rann in Strömen, Arme und Beine brannten, der Nacken schmerzte und ich genoss breit grinsend diese Fahrt. Ich hatte meinen Rhythmus gefunden und kurbelte und kurbelte. Und viel schneller als ich dachte, war ich kurz vor dem Gipfel. Die letzten hundert Meter ging ich nochmal aus dem Sattel, meine Augen fixierten das Ziel. Die  Menschenmassen dort nahm ich kaum wahr. Und dann war ich oben auf dem Parkplatz des Passes angekommen. Die Trittfrequenz nahm wieder zu, die Straße legte sich wieder eben hin und ich konnte endlich diesen persönlichen Triumph genießen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht und ich blinzelte gen Himmel. Weißes Sonnenlicht traf mein Gesicht. Mein Traum war wahr geworden. Ich war oben.

„Jaaaaaaaaaaa…ich hatte es geschafft! Ich bin auf das Stilfser Joch geradelt!“Ich, der zu Hause so manches Mal an den 135 Höhenmetern der Marienburg verzweifelte, der vor gar nicht allzu langer Zeit an Autobahnbrücken aus dem Sattel gehen musste, ich stand nun hier oben und war einfach nur richtig glücklich. Ich freute mich wie ein kleines Kind über das unvergessliche Erlebnis, mit dem Rad aus eigener Kraft auf einen fast 3.000 m hohen Berg gefahren zu sein. Einfach so, weil es ging. Freute mich darüber, dass ich einen der spektakulärsten Ausblicke der Alpen sehen durfte und dass jetzt und für alle Zeit genau dieses Bild als Erinnerung für mich dienen wird, wenn der Name Stilfser Joch fällt.

Dann stieg ich mit zitternden Beinen ab, machte ein paar Fotos und bemerkte langsam, wie sich die Kälte, vom Wind getrieben, in meine verschwitzten Sachen kämpfte. Also schnell den Rucksack geöffnet und die Ärmlinge und die Weste angezogen. Ich stelle mein Rennrad ab und ging stolz zum Gipfelschild.
Nein, eigentlich ging ich nicht, ich schritt oder noch besser, ich schwebte erhobenen Hauptes…Nach dem Gipfelfoto stand fest, diesen hier, den Stelvio, die Königin aller Pässe, diesen epischen Berg, den Traum aller Rennradfahrer, den hatte ich im Sack! Den nimmt mir keiner mehr! Der ist für immer und ewig auf meiner inneren Festplatte eingebrannt! Ich konnte einen weiteren Haken auf meiner To-do-Liste machen. Und was für einen!

So saßen wir oben in der Sonne, genossen den wahnwitzigen Trubel, schauten zurück auf unser „Tagwerk“ und konnten uns gar nicht satt sehen…das waren Glücksgefühle, die einen in dieser Intensität wohl nur selten im Leben ergreifen. Wir alle hatten gekämpft, geflucht, gelacht, gelitten, gefeiert, geschwiegen, uns gefreut, gestaunt und geschwitzt, bis wir nach knapp 3 Stunden, 48 Kehren, traumhaften Ausblicken und 1.851 Höhenmeter am Stück den Gipfel erreicht hatten.

Dort waren wir ziemlich überwältigt von unseren Glücksgefühlen und den tollen Ausblicken... lediglich der Trubel auf der Passhöhe war nervig. Souvenirläden boten T-Shirts, Trikots und Flaggen an und Restaurants lockten mit freien Plätzen auf der Sonnenterrasse. Kaum vorstellbar, aber hier gibt es einen riesigen, meterlangen Bratwurststand und sogar ein Hotel steht hier, obwohl dieser Pass 8 Monate im Jahr wegen Wintersperre nicht befahrbar ist. Wir suchten uns einen halbwegs ruhigen Platz zum Sitzen und stillten unseren Hunger. Nach einer langen Mittagspause rollten wir dann über die Südrampe herunter und bogen nach drei Kilometern rechts zum Umbrail-Pass ab. Mit fast 70 km/h flog ich nur so dahin. Und ja, ich bin ein begeisterter Abfahrer. Ich hing über dem Lenker, machte den Katzenbuckel, krallte meine schwammnassen Handschuhe in das Lenkerband, winkelte meine Beine an und sauste im Freilauf nach unten.

Und die knapp 20 km gingen für meinen Geschmack viel zu schnell vorbei. Aber ich freute mich so und das Adrenalin schoss mir zu den Ohren hinaus. Es waren Momente wie diese, die die Qual einer Steigung vergessen machten. In Santa Maria gelangten wir auf eine gut ausgebaute Bundestraße und rollten hinab zu unserem Ausgangspunkt nach Glurns.

Ein fantastisches Erlebnis, einen derartigen "Riesen" bezwungen zu haben... und ein tolles Gefühl, mit Muskelkraft angetrieben über einen der höchsten Pässe gefahren zu sein. Was konnte man mehr erwarten? Wir waren hier nicht  angetreten um Rekorde zu brechen, sondern um Spaß zu haben - Spaß mit uns, Spaß mit unserem Rennrad und auch Spaß mit diesem Berg. Nun ja, Spaß ist relativ und so ist letzteres sicher eine für Außenstehende eher schwer verständliche Mischung aus Hass, Leid, Fluchen, Faszination, Angst, Verzweiflung, Sieg und Triumph. Und letztlich: Ein großartiger Tag, mit großartigen Menschen an diesem großartigen Berg.

Und deshalb dachte ich nach dem Stilfser Joch: Also dieser Pass ist einer der schönsten und spektakulärsten Pässe, die man fahren kann. Eine kunstvoll in die Landschaft gebaute Straße, die ohne Ende zu sein scheint. Was sollte mich jetzt noch aufhalten können?

Hallo, Ihr Berge und Pässe, Ihr mythischen Anstiege und heimlichen Stars der Rennradszene, wo seid Ihr?


Peter Sagan Fan-Ride oder auch: mein Ritt auf der Kanonenkugel

Irgendwie war dieses Jahr wohl mein Glücksjahr, denn ich gewann die Teilnahme am 1. Peter Sagan Fan-Ride in der Nähe von Rosenheim. Das Team des dreifachen Weltmeisters und sechsmaligem Gewinner des Grünen Trikots der Tour de France stellte eine Veranstaltung auf die Beine, die jedem Fan dieses Sports die Freudentränen ins Gesicht trieb. Am 03.10.2018 war es soweit. Ich war am Vorabend mit Max angereist und nach einer recht kurzen Nacht stand ich nun am Fenster unseres Hotelzimmers und glaubte es kaum…Regen! Ausgerechnet hier, ausgerechnet heute. Regen. Da haben wir einen Jahrhundertsommer mit Temperaturrekorden und ständiger Trockenheit hinter uns und jetzt und hier, ausgerechnet bei meinem absoluten Saisonhighlight, regnete es.

Aber egal, heute sollte ich die Chance bekommen, eine gemeinsame Ausfahrt mit dem Team Bora Hansgrohe und eben Peter Sagan zu absolvieren.

Nach einem kurzen Frühstück fuhren Max und ich zum Startpunkt nach Kolbermoor und ich war schon recht aufgeregt, als ich meine Startnummer abholte. Insgesamt durften 500 Fans mit dem Team auf eine 60 km-Runde durchs Alpenvorland gehen und so langsam wurde es voll auf dem Gelände. Sogar die ersten Teamfahrer und auch der Teamchef - Ralf Denk - erschienen, aber noch fehlte vom Superstar Sagan jede Spur.

Auf der großen Bühne neben dem Teambus wurden die einzelnen Fahrer interviewt und keiner (außer Max und mir) bekam mit, wie ein unscheinbarer Mittelklassewagen auf das Gelände gefahren kam. Da musste er drin sein, also hin…und richtig! Ein noch ziemlich verschlafen dreinschauender Peter Sagan stieg aus dem Auto und war sichtlich erfreut, nicht direkt im Zentrum der Aufmerksamkeit von hunderten Fans zu stehen.

Meiner freundlichen Bitte nach einem Foto kam er gern nach und verabschiedete sich sodann in den Teambus, um sich umzuziehen. Und noch immer hatte keiner bemerkt, dass er angekommen war. Das sollte sich aber gleich schlagartig ändern…

Als er nach wenigen Minuten - nun im gewohnten Outfit des Teams - aus dem Bus stieg, gab es kein Halten mehr. Alle wollten ein Foto oder Autogramm ergattern und wenn er alle Wünsche hätte erfüllen wollen, dann wären wir an diesem Tag sicherlich kein Rad mehr gefahren…Zumindest für die wartenden Kinder nahm er sich aber ausgiebig Zeit und posierte gelassen für etliche Fotos.

Und dann wurde es ernst. Zunächst wurden Gruppen a 25 Fahrer eingeteilt und im Minutenabstand auf die Strecke geschickt. Dies sollte für ein wenig Ruhe im riesigen Teilnehmerfeld sorgen, da sicherlich ansonsten jeder gern neben Peter gefahren wäre. Ich war in der fünften Gruppe, also hieß es, sich vorarbeiten zu Peter Sagan. Das war mein Plan…Sonst geht´s aber, oder? Träum´ weiter!

Start.

Neben mir klickten sie ein, mein Puls schoss nach oben und alle gaben sofort richtig Gas. Eine Beschleunigung wie vom Gummiband losgeschnalzt. Sofort zog sich das Feld auseinander. Also Kopf runter und reintreten, sehr hart, die Lungenflügel brannten und neben mir hatte einer seinen ersten Krampf (Kilometer 1!). Kalte Muskeln mussten hier richtig schnell heiß werden. Schon riss vorn die erste größere Lücke auf. Keine Chance mehr, das große Feld vor uns fuhr weg. Wir, 10, 15 Mann, hechteten hinterher. Immer mehr zirkelten links und rechts wie die Verrückten an mir vorbei. Leute. Bitte - ihr könnt doch hier nicht 60 km am Stück sprinten…ich musste hetzen und hecheln, die ganze Zeit hart reintreten - obwohl es bergab ging - mich an Leute hängen, kleine Lücken zufahren und dabei höllisch aufpassen, denn die fuhren hier teilweise wie die Irren! Ich trat rein wie verrückt, neben mir krachten sie die Gänge auf die Ritzel, dass es nur so knallte, sie schnauften, sie ächzten und ich hatte Seitenstechen! 45er Schnitt, keine 5 Kilometer gefahren ...So bekam ich am Anfang nicht viel vom vorderen Feld oder gar der Umgebung mit. Das änderte sich aber bald, denn wie zu erwarten, versuchten alle später gestarteten, nach vorn zur ersten Gruppe zu fahren. Nach jeder Kurve wurde ein unvorstellbar hohes Tempo angeschlagen und ich hatte große Mühe, mich in meiner Gruppe zu halten.

Vorn zu starten hatte zwar seine Vorteile, unbestritten, aber Nachteile hatte es auch. Hier vorn war das Tempodiktat der Spitze noch stärker, der enorme  Beschleunigungsdrang und die Dynamik im Feld, die Positionskämpfe - mochten sie noch so unsinnig sein - noch härter, als weiter hinten. Stress pur. Und dann dieses hohe Tempo. Kleine Ortschaften flogen an mir vorbei und bereits nach knapp 10 Kilometern brannten meine Beine und Lungen, wie selten zuvor. Die ganze Zeit fuhr ich im Unterlenker und komplett am Anschlag. Nach knapp 20 Kilometern hatten wir tatsächlich die erste (nun deutlich größere) Gruppe erreicht.

Als ich mir das erste Gel reindrückte und herunterschaltete, wollte ich mich am liebsten bekreuzigen: "Jesus, überlebt!", fluchte einer neben mir. Das beschrieb ganz schön den Trubel dieser ersten Kilometer und ich war froh, zumindest mal kurz die Beine „hochnehmen“ zu können.

Die Freude währte aber nur kurz, denn als die Teamfahrer merkten, was da hinter ihnen passierte, zogen sie das Tempo deutlich an, um die Gruppe wieder zu entzerren. Sie gingen nicht einmal aus dem Sattel, sie beschleunigten einfach so. Im Sitzen. Keine Bewegungen im Oberkörper, kein Knarzen von unter der Last der Wattzahlen ächzenden Pedalen, kein Schnaufen, keine Luftstöße aus offenem Mund. Nur kräftige Tritte. Großes Blatt und kleines Ritzel. Sie fuhren um eine Kurve und waren weg. Wusch…Das zeigte natürlich sofort Wirkung, denn die große Gruppe zerfiel in kürzester Zeit in viele kleine Gruppen. Wahnsinn, wenn man mal live sieht, was passiert, wenn Profis kurz beschleunigen.

Ich war von der Aufholjagd so kaputt, dass ich den Windschatten meiner nun deutlich verkleinerten Gruppe nicht mehr halten konnte und musste abreißen lassen… ich konnte einfach nicht mehr. War alle. Leer. Keine Kraft mehr. Nichts ging mehr. Alle Körner verschossen, Stecker gezogen - Rien ne va plus.

Ich kroch, atemlos, die zugegeben doch recht steilen Wellen hinauf, der Schweiß lief in Strömen aus meinem Helm, die Beine waren schwer wie Blei und das Laktat stand Eimerweise in den Schuhen. Alter Schwede, wie ich das hasste! Kraft-Ausdauer, also die Fähigkeit, über einen langen Zeitraum hohe Leistungen auf das Pedal zu bringen - war bei mir nicht drin. Steile Rampen, mögen sie noch so lang sein, komme ich hoch. Das geht schon. Langsam zwar, aber es geht. Irgendwie. Nur halt Druck machen, Tempo gehen - da braucht man Kraft und die habe ich einfach nicht.

Frust machte sich breit. Waren die anderen wirklich so gut, war ich so schlecht, wieso lief es heute bei mir nicht rund? Für einen Moment hatte ich wirklich Zweifel. Dann aber kam ein Teamwagen langsam an mir vorbei und bedeutete mir, dass ich mich in den Windschatten setzen solle. Na, das war doch mal ein Angebot. Ich fuhr in bester Profimanier zusammengekauert im Zentimeterabstand hinter dem Teamfahrzeug her und genoss den enormen Windschatten. Wir jagten mit fast 50 km/h die Straße entlang und ich musste nicht mal treten…herrlich. Nach kurzer Zeit hatte mich das Auto wieder an „meine“ Gruppe rangefahren. Diese kurze Zeit hatte ausgereicht, meine übersäuerten Beine wieder rund laufen zu lassen und ich schwamm nun recht locker in der Gruppe mit bis ins Ziel.

Das waren nun also 60 km im „leicht hügeligen“ Alpenvorland, die wir in etwas über 1 ½ Stunden absolviert hatten. Unglaublich, dieser Speed. Und die oben geschilderten Gedanken an die vermeintlich schlechte Form waren auch recht schnell relativiert. Immerhin hatte ich die Strecke mit einer durchschnittlichen Leistung von deutlich über 200 Watt absolviert und die Geschwindigkeit war enorm. Zumindest für mich…denn im Ziel hatte ich nochmal kurz die Möglichkeit, ein Foto mit Peter Sagan zu schießen und stellte fest, dass er scheinbar noch nicht mal geschwitzt hatte…

Nach einer kräftigen Stärkung kamen so langsam die Lebensgeister zurück und immer wieder bin ich überrascht, wie schnell doch die Anstrengung wieder vergessen ist. Eben noch völlig fertig mit Mühe und Not vom Rad gestiegen, kann ich keine 30 Minuten später schon wieder aufs Rad steigen und losrollen.

Und was bleibt als Resümee?

Zunächst einmal ein unvergessliches Erlebnis.

Der Tag verging viel zu schnell, um all die gesammelten Eindrücke schon verarbeiten zu können. Das gesamte Team von Bora Hansgrohe machte den Eindruck, als wenn ihnen dieser Tag genauso viel Spaß und Freude gebracht hat, wie mir. Die Organisation war perfekt, die Strecke super, das Fahrerfeld vielleicht ein bisschen zu groß, aber hey - wer hat sonst die Möglichkeit, mit den Profis und vor allem dem dreifachen Weltmeister eine solche Tour zu absolvieren?

Und so werde ich noch lange an diesen Tag denken und mich beim Training immer wieder daran erinnern, wie sehr ich beißen musste, um bei einer für Profis lockeren Runde, den Windschatten nicht zu verlieren.


Ich bin ein Stoneman

Das Wichtigste vorab: Ich bin ein Stoneman!

Das nimmt mir keiner! Das war mal so richtig krass.

Es wurde mal wieder allerhöchste Zeit für eine kleine Flucht. Das Corona-Virus hatte zur Absage aller meiner geplanten Saisonhighlights geführt und um die Motivation nicht zu verlieren, war eine kleine Auszeit bitter nötig. Marc war vor zwei Jahren mal den Stoneman im Erzgebirge gefahren, hatte im Anschluss viel davon geschwärmt und ich war seinerzeit neidisch darauf, nicht mitfahren zu können. Also stand fest, das müssen wir auch gemeinsam nochmal machen und nun war es soweit.

Asphaltrausch im Erzgebirge - und das alles für einen bronzenen Stein. Ein unvergesslicher Ritt auf der erzgebirgischen Pultscholle! 330 km, 6.300 Höhenmeter, 34 giftige Rampen zwischen Jahrhunderte alter Bergbautradition und dem kräftezehrenden auf und ab des Erzgebirges – das ist der Stoneman Miriquidi Road. Diese traumhaft schöne Strecke treibt jedem das Laktat in die Beine und den Puls in die Höhe.

Die Corona bedingten Ausgangsbeschränkungen waren in Sachsen seit dem 20. April 2020 aufgehoben und auch wenn die Überquerung der deutsch-tschechischen Grenze untersagt blieb, so erlebten Marc und ich unser Stoneman Miriquidi Abenteuer als unvergessliche, innerdeutsche Rennrad-Challenge.

Am meisten Spaß macht so etwas natürlich, wenn man nicht als Einzelkämpfer, sondern mit einem Wingman, einem Freund, einem Buddy unterwegs ist, mit dem man solche Sachen problemlos und ohne viel zu erklären, machen kann. Der muss nicht immer bei mir sein, allein - zu wissen, dass er da ist, gibt mir viel Kraft. Ich habe einen Buddy. Einen, an dem ich mich messen, mich reiben, mich motivieren kann. Danke Marc, dass Du sowas mit mir machst. Du bist der positiv bekloppteste Typ, den man als Freund haben kann und das war garantiert nicht unser letztes Abenteuer.

Raus aus den eigenen 4-Wänden! Auf nach Sachsen! Das Abenteuer konnte beginnen…

So machten wir uns in den frühen Abendstunden des 28.05.2020 auf den Weg ins sächsische Marienberg, um im dortigen Hotel „Zum weißen Roß“ zu übernachten. Dort wurden wir herzlich empfangen und mit unseren Starterbeuteln ausgestattet.  Diese bestehenden aus einem Stoffbeutel („Rucksack“), Trinkflasche, Kettenwachs, Info-Material, Landkarte, Armband, Schlauch-Schal (Buff) und einem kompostierbaren Müllbeutel. Ach ja und das wichtigste Utensil: Schlüsselband mit Stempelkarte. 13 Checkpoints müssen angesteuert werden. An jedem Kontrollpunkt gibt es eine Infotafel und einen Stempelautomaten, in welchem die Karte gelocht wird. Am Ende dient eine an allen Punkten abgestempelte Karte als Beweis, die Strecke bewältigt zu haben. Und dann durften sogar unsere Räder mit auf die Hotelzimmer nehmen. Das war schon mal ein sehr gelungener Start.

Etappe 1: Marienberg nach Bärenfels

Um 08:00 Uhr saßen wir im Frühstücksraum unseres Hotels und freuten uns auf das nun kommende. Die Wetterprognose war hervorragend und so mussten wir nur kurz warten, bis der Track vom Veranstalter auf unseren Navis bereit war, um endlich loszurollen. Rund 120 km und über 2.200 Hm lagen vor uns und gespannte Erwartung machte sich breit. Schnell noch das obligatorische Start-Selfie geschossen und dann konnte es losgehen. Unser ganz persönliches Stoneman-Abenteuer. Ach herrlich. Heute war einer dieser Tage, an denen einfach alles stimmte.

Die ersten Kilometer gaben uns gleich mal einen guten Eindruck davon, was uns in diesen drei Tagen erwarteten würde. Ruhige, sehr wenig befahrene Nebenstraßen kreuz und quer durch das sächsische Mittelgebirge, wunderbare Aussichten, verschlafene, kleine Ortschaften und die bei der Streckenbeschreibung angekündigten “giftigen Rampen”. Keine langen und monströsen Anstieg wie in den Dolomiten oder den Alpen, aber dafür ging es stetig hoch oder runter. Wirklich flache Stücke gab es hier nicht. Verwundern sollte dies niemanden, hieß doch einer der ersten Orte, die wir durchquerten „Gebirge“.

War ich anfangs noch auf dem großen Kettenblatt unterwegs, merkte ich recht schnell, dass bei den vielen „Wellen“ eine etwas kräfteschonendere Fahrweise angesagt war. Also ab in einen kleinen Gang und schön gleichmäßig pedalieren. Es fühlte sich toll an. Unsere Form schien gut zu sein und wir konnten, trotz der Anstrengung die fantastischen Aussichten genießen. Ich war immer wieder von der fast unheimlichen Ruhe, der Landschaft und den kleinen beschaulichen Orten begeistert. Hier schien die Welt irgendwie stehengeblieben zu sein. Ich fragte mich, warum ich eigentlich noch nie hier gewesen war? Zum Rennradfahren hatte ich diese Gegend irgendwie gar nicht auf dem Schirm.

Jeder fährt zum Radfahren nach Mallorca, nach Italien, Spanien oder in die Alpen. Inklusive mir selbst. Aber ins Erzgebirge? Dabei liegt das Gute oftmals so nah und ist einfach und vor allem ohne großen Planungsaufwand zu erreichen. Gerade das Erzgebirge hat es in den letzten Jahren geschafft, ein kleines Mekka für Radfahrer zu werden. Und wir erfuhren gerade im Wortsinn, weshalb das so war. Oft war kilometerweit keine Menschenseele zu sehen, es ging permanent hoch und runter, die Ruhe um uns herum war fast schon greifbar und die Straßen waren in einem tadellosen Zustand. Die Landschaft war so wunderschön, dass man eigentlich auch gern stundenlange Staun- und Fotostopps hätte einlegen können.

Selbst die Autofahrer hier schienen deutlich entspannter zu sein. Es war sehr auffällig, wie viel Abstand die Fahrer hier beim Überholen hielten. In Saigerhütte erreichen wir dann unsere erste Stempelstelle und genossen in der wärmenden Sonne das schöne Gefühl, ein erstes Teilziel erreicht zu haben und ein Loch in die Stempelkarte zu stanzen. Die Kontrollpunkte sind einfach zu finden uns oftmals mit viel Liebe zum Detail hergerichtet. Da lohnt sich ein kurzer Moment des Verweilens durchaus, denn es gibt viel zu entdecken. Und dann wieder mit Freude in die Abfahrt…

Einklicken, Brille fest auf die Nase drücken, reintreten, hochschalten, Unterlenkerhaltung. Den Rest würde gleich das Gefälle besorgen. Ich lasse losrollen, erreiche schnell 50 und dann 60 km/h. Schon knallt der Fahrtwind wieder in den Ohren, schon kribbelt es wieder in den Fingern. In die Kurven legen, das Rad schief durch das Gefälle drücken, hart bremsen, Luftstau in der Röhre - ein herrliches Gefühl, diese Abfahrten. Wir können richtig gut rollen lassen, auch mal 30 Sekunden, eine Minute lang einfach nur fahren. Sanft in die Kurven legen, Links-Rechts-Kombinationen. So macht das verdammt Spaß! Bis ich dann förmlich im Gegenanstieg stecken bleibe. Es geht ein, zwei Kilometer nach der Abfahrt wieder steil bergan. Nicht viel, nicht hart, aber es kommt so überraschend, dass Marc hinter mir anfängt zu fluchen. Wir kurbeln nach oben - und wieder geht es bergab. Hui! Herrlich! Vorbei an herrlich duftenden Kiefernwäldern, kleinen verschlafenen Ortschaften, Talsperren und durch enge Basaltschluchten ging es dann nach Seiffen.

Was für ein witziger Ort. Die dort in traditioneller, feinster Handarbeit hergestellten Holzspielzeuge, Schwibbögen, Weihnachtspyramiden, Nussknacker und Räuchermännchen sind weltbekannt und diese kleine Stadt besteht eigentlich nur aus Holzwerkstätten, Läden, Imbissbuden und einer Unmenge an Touristen, die uns ungläubig anschauten, als wir an Ihnen vorbei die abenteuerlich steile Straße durch den Ort hindurch radelten. Hier schien irgendwie alles und jeder der Holzschnitzerei verbunden zu sein. Nichts, was es nicht aus Holz gegeben hätte. Sogar das Weihnachtshaus entdeckten wir…

Kurz danach sahen wir den Schwartenberg und waren begeistert. Mitten im Nirgendwo ragt ein kleiner Hügel auf knapp 800m ü. NN aus den Feldern. Und so ging es über einen 13 km langen, stetig bergan führenden und zum Ende hin richtig fiesen Anstieg hinauf, denn dort war die zweite Stempelstelle. Schnell sank die Geschwindigkeit auf unter 20, dann 15 und wenig später, als es wirklich anfing steil zu werden, kraxelten wir mit 10 km/h die Rampen hinauf. Marc blieb zunächst bei mir, als ich dann aber zum ersten Mal eine 11 oder 12 % auf meinem Garmin stehen sah, ließ er abreißen: "Ich fahre hier ganz ruhig hoch!", meinte er. "Ich auch", grinste ich und entfernte mich langsam aber sicher von meinem Teamkollegen. Im Anstieg muss jeder sein eigenes Tempo gehen. Und so arbeitete ich mich allein nach oben. Zum Glück hatten wir nicht auch noch Gegenwind, sonst wären wir diese Steigung bestimmt rückwärts wieder runter gerollt. Aber der Ausblick von hier oben entschädigte für die Aufstiegsmühen…Atemberaubend! Einfach traumhaft schön. Ein fantastisches 360° Panorama bei blauem Himmel und Sonnenschein.

Pause, Stempelkarte stanzen, hinsetzen, Energie tanken und vor allem die Aussicht genießen. Manchmal kann das Leben so herrlich einfach sein.

Nach der kurzen Pause ging es weiter nach Holzhau, dass ich als Wintersportort für passionierte Langläufer kannte. Kurz vor unserer Tour hatte ich aber auch von Robert Petzold gelesen, der hier in Holzhau 2016 einen Höhenmeterweltrekord aufstellte, in dem er in 24 Stunden 154 Mal den berüchtigten Anstieg auf der Bergstraße bezwang. Insgesamt kamen so 22.622 Höhenmeter zusammen. Ich hatte die große Hoffnung, diesen Anstieg auch fahren zu können und war happy, als ich entdeckte, dass er auf unserer Tour lag. Es war schon ein verdammt cooles Gefühl, diesen „Stich“ zu erklimmen, auch wenn mir einmal hier hoch völlig ausreichte. Oben angekommen stanzen wir unsere Karten zum vorletzten Mal. Die nächste Station wäre Zinnwald und danach kämen wir auch schon nach Bärenfels, in unser heutiges Etappenziel. Schon? Irgendwie hatte ich die Entfernungen unterschätzt, denn bis nach Zinnwald waren es noch gute 25 km und auch hier stellten sich etliche Rampen in den Weg, die erst mal erklommen werden wollten. Wir fuhren am immer noch irgendwie bedrohlich wirkenden Grenzübergang zu Tschechien vorbei und sahen in einiger Entfernung vor uns zwei weitere Rennradfahrer.

Jetzt erst fiel mir auf, dass wir den ganzen Tag über, trotz dieser fantastischen Gegend, keine anderen Rennradfahrer gesehen hatten. Schon komisch, bei solch einem Traumrevier. Naja, wie es bei mir immer so ist, wenn in der Ferne andere Fahrer zu sehen sind, ich beschleunigte. Nicht ruckartig oder brutal, nein, kaum merklich zog das Tempo an. Stück für Stück. Und mit jeder Pedalumdrehung kamen wir ihnen näher. Die Straße hoch zur Kontrollstelle stieg schon wieder richtig steil an, aber das war egal. Mein Jagdtrieb war geweckt und so ging ich im Wiegetritt und breit grinsend an beiden Fahrern vorbei und flog förmlich zum Kontrollpunkt.
Stempelstelle Zinnwald - Erster! - 581m ü. NN – stanzen – Loch im Kärtchen – Check.

Seelenruhig packte ich einen Riegel aus, wartete auf die gerade Überholten, grinste mit Marc um die Wette und genoss hier oben die wiedermal tolle Aussicht. So langsam gingen einem wirklich die Superlativen aus. Diese Fernsicht - wunderschön! Wir wünschten den beiden anderen Radlern noch viel Spaß und machten uns wieder auf den Weg. Und richtig viel Spaß hatten wir auch, denn überall, wo man sich hochquält, wurde man mit einer feisten Abfahrt belohnt. Das war hier nicht anders und so ließen wir es mal wieder richtig fliegen.

Schön tief im Unterlenker und auf dem Oberrohr kauernd ging es in Schussfahrt bergab. Die Insekten knallten reihenweise an die Brille und hätte ich den Mund nicht geschlossen gehalten, hätte ich sie bestimmt auch zwischen den Zähnen gehabt. Kurz hinter Zinnwald trauten wir dann unseren Augen nicht. In einem kleinen Ort stand im Zentrum an einem Brunnen ein Hinweisschild:

„Lauenstein am Ith - 515 km“.

Woher kannten die hier „unser“ Lauenstein am Ith? Einfache Erklärung: In diesem kleinen Ort gibt es das Schloss Lauenstein. Und praktischerweise heißt der Ort dann auch genauso. Wikipedia weiß dazu: „Lauenstein unterhält eine Partnerschaft zum gleichnamigen Ortsteil der Gemeinde Salzhemmendorf nahe Hameln in Niedersachsen.“ Aha, wieder etwas gelernt.

Das letzte Teilstück der heutigen Etappe führte nun nach Bärenfels, wo wir in der Pension „Sartor“ die Nacht verbringen sollten. Leicht euphorisiert ging es in den 18 km langen “Zielspurt”. Wunderbare Natur und kaum Verkehr. Nochmal waren zwei knackige Anstiege zu bezwingen, aber es lief super und die Freude auf das Ziel motivierte ungemein.

Kurz vor fünf erklommen wir in Bärenfels die letzte Steigung und hatten es geschafft. Hammer! 2.200 Höhenmeter am 1. Tag – Geschafft! Unsere erste Etappe war in trockenen Tüchern, 5 von 13 Checkpoints, 120 von 330 km, 2.200 Hm, 5:22 h im Sattel und das bei bestem Sonnenschein. Wiedermal wurden wir sehr herzlich begrüßt, die Räder in einer separaten Garage verstaut und schnell wurde das wichtigste geklärt: “Wann und wo können wir essen?” Mit mächtigem Hunger saßen wir kurze Zeit später im Gasthof gegenüber und ließen uns einheimische Köstlichkeiten schmecken. Genuss ohne Reue, denn Kalorien hatten wir heute mehr als genug verbrannt.

Als wir gesättigt waren, schauen wir auf unsere Handys. Dank Strava, Facebook, WhatsApp und Instagram kamen nun nach und nach zahlreiche Reaktionen auf unsere heutige Tour. Nur Stoneman Road Bronze? Die meist gestellte Frage in zwei Worten: “Nur Bronze?”

Den Stoneman Miriquidi Road kann man an einem, zwei oder drei Tagen fahren, wofür man am Ende mit einem kleinen Pokal in Gold, Silber oder Bronze – je nach Anzahl der benötigten Tage – belohnt wird. Und ja, wir fahren “NUR” Bronze, also an drei Tagen. Für mich kam auch gar nichts anderes in Frage. Deshalb erstaunt, überrascht, erschreckt und beschäftigt mich dieses “NUR”. Ich bewundere die Leute, die sich diese Tortur an einem einzigen Tag antun. Kann man bestimmt mal machen. Dazu müsste man richtig früh los, denn diese 330 km sind doch schon ein richtiges Brett. Und ob man dann so viel von der Gegend hier mitbekommt?

Ich jedoch - und ich denke Marc ging es nicht anders - wollte diese Tour genießen, die Eindrücke, die Gegend, die Aussichten ein- und aufsaugen, Fotos machen. Land und Leute kennenlernen. Einen kleinen Kurzurlaub erleben und dabei Spaß haben. Es sollte für uns definitiv kein Rennen werden! Ich wollte fit sein, die Strecke ganz bewusst und nicht leidend erleben. Hier setzt jeder seine eigenen Grenzen, denn genau das ist das Schöne am Stoneman, jeder kann für sich festlegen, wie er das Ganze fahren möchte und so hat jeder seine eigene Herausforderung. Es geht uns nicht um Zeiten und Platzierungen. Doch der Stoneman ist auch keine Kaffee- und Kuchenfahrt. Und nichts für Ungeübte. Der Name ist Programm, denn über 6.000 Höhenmeter rollt man nicht einfach so weg. Wer nicht bereit ist, sich zu schinden, der sollte es lassen. Wer allerdings eine richtige, eine wirkliche Herausforderung sucht, der muss (!!!) hier starten.

Etappe 2: kurz und „flach“

Bei kühlen Temperaturen und einem wildem Sonne-Wolken-Mix gings nach einem opulenten Frühstück auf die Strecke. Und wie! Aus Bärenfels heraus führte der Kurs zunächst direkt kilometerweit bergab. Sofort schaltete ich auf das große Blatt und ging in den Unterlenker. Wow, ging das hier ab! Die Abfahrt war Wahnsinn. War Horror. War Genuss. War Abenteuer. War Irre und wahnwitzig. Wir wurden nicht brutal schnell - bei 70 km/h war Schluss - aber wir hatten beschleunigt, dass es fast wie Lichtgeschwindigkeit anmutete.

Die ersten Kilometer der Abfahrt (ich friere wie ein Hund!) rauschen nur so an uns vorbei. Marc vorneweg, ich hinterher. Schussfahrt im Morgengrauen. Ganz großes Kino! Tolle Straßen, ein permanentes Auf und Ab, super Landschaft mit weiten Blicken in die Region. Und wir genossen diesen Trip in vollen Zügen. Die Route über Blockhausen und Niederlautenstein war dann auch ein Highlight des ganzen Stoneman. Kilometer an Kilometer feinste Straße durch riesige Waldgebiete. Kurze, richtig giftige Anstiege wechselten sich mit langen und super zu fahrenden Abfahrten durch eine Traumkulisse ab. Sehr wenig Verkehr und oft allerfeinster Straßenbelag (ein paar eher ruppige Asphaltabschnitte und Kopfsteinpflasterpassagen waren wirklich die Ausnahme) sorgten für richtig gute Laune. Wir gingen hochmotiviert auf die Räder und mir tat gar nicht so viel weh wie erwartet. Unsere Beine hatten die gestrige Etappe richtig gut verkraftet und gingen richtig gut rund. Zwischenzeitlich hatten wir auch die Anzeige im Garmin verstanden. Bei nahezu jeder angezeigten Abbiegung konnte man sicher sein, direkt wieder in einen Anstieg zu fahren. Die Frage lautete eigentlich jedes Mal nur, wie lang und wie steil würde es dieses Mal werden?

Aber auch, wenn das Roadbook heute „nur“ knapp 1.300 hm vorgab, sollte man sich nicht täuschen lassen. Ein ums andere Mal sahen wir am Straßenrand solche Schilder stehen…

Immer wieder eine komplett veränderte Landschaft. Es roch nach Harz, es klopfte ein Specht an morsches Holz, unter mir klopfte der Freilauf einen schnelleren Beat. Der Wald entpuppte sich als perfekt zu fahrende Straße. Bester Asphalt, die Bäume hielten den Wind ganz gut ab und das Beste daran war, es ging mit 2, 3 % Gefälle bergab. Es ging superflott voran. Eine schöne, eine abwechslungsreiche Etappe. Unbeschreiblich schön war es hier. Rennradfahren in seiner schönsten Form.

Das Erzgebirge zeigte sich wieder von seiner besten Seite. Wieder kaum Autos auf der Strecke und gute bis sehr gute Straßenqualität. Das ist wirklich einer der Reize beim Stoneman Miriquidi Road. Hoch und runter ging es, immer und immer wieder. Mir selbst machten die Abfahrten heute etwas Schwierigkeiten. Es ging ein harscher, böiger Wind, der häufig seitlich aufs Rennrad traf. Die Windstöße zerrten an den Hochprofilfelgen, trafen mich von der Seite, schoben und zogen, wenn mir entgegen kommende PKW dann noch ihre eigene Windschleppe um die Ohren hauten, fühlte sich das Rennrad an, wie ein Citroën beim Elchtest…also lieber mal etwas langsamer machen und safe fahren.

Natürlich mussten wir zwischendurch auch anhalten und es uns gut gehen lassen. Leckerer Mohn-Schmand-Kuchen und eine Tasse Kaffee hatten wir uns so was von verdient.

Und etwas Kultur gab es natürlich auch wieder, denn die auf unserer Route liegende Burgruine Frauenstein ließen wir uns natürlich nicht entgehen. Hier hatte der Sage nach während einer Belagerung ein Burgbewohner einen abenteuerlichen Ausbruch gewagt. Er soll mit seinem Pferd eine 11 Meter hohe Mauer übersprungen haben und die Aufschlagstellen der Hufe seien heute noch zu sehen. Nun ja, wir konnten sie nicht entdecken, bestaunten aber dieses herrlich alte Gemäuer.

Weiter ging es dann in Richtung Niederlauterstein, wo uns der Scharfrichter des heutigen Tages erwarten sollte. Ein Anstieg - wieder mal 18% - und der letzte Kontrollpunkt für heute. Von hier aus rollten wir entspannt ins Etappenziel nach Marienberg und waren schon um kurz nach 14:00 Uhr an unserem vom ersten Tag bereits bekannten Hotel. Damit hatten wir weitere 73 km und 1.262 hm absolviert und überlegten ernsthaft, ob wir noch weiterfahren sollten, denn irgendwie war es heute doch sehr kurz. Wir entschieden dann, dass wir den Radtag beenden und nach einer ausgiebigen Dusche und etwas Ruhe zu Fuß den Ort erkunden wollten. Und so spazierten wir durch Marienberg, bestaunten die alten Postkutschenwege und die tolle Stadtmauer und kehrten schließlich am frühen Abend ein, um unseren Bärenhunger zu stillen. Anschließend ging es dann ziemlich zügig ins Bett, denn am kommenden Tag wartete unsere Königsetappe auf uns. Das längste Teilstück mit den meisten Höhenmetern sorgte gleichzeitig für Vorfreude und gespannte Erwartung.

Etappe 3: Königsetappe

Heute würde es episch werden! Heute galt es! Die beiden vorangegangenen Tage waren der Aufgalopp, ein Vorgeplänkel für das, was heute kommen sollte. Ehrfürchtig schaute ich beim Frühstück auf den Etappenplan. 135 km und 2.750 hm standen auf dem Plan. Lange Anstiege wie der Fichtelberg mit seinen 13 km bergauf, kurze, aber mit bis zu 20% steile Rampen wie Bärenstein und zwischendurch eigentlich kein einziger flacher Meter. Das versprach großartig zu werden.

Also erstmal die Energiespeicher auffüllen und ordentlich frühstücken…

Der morgendliche Blick aus dem Fenster versprach allerdings nichts Gutes. Die Wettervorhersage hatte ausnahmsweise Recht behalten. Dunkle Wolken, wohin das Auge schaute. Die Prognose sagte ab dem späten Vormittag Schauer voraus und so rüsteten wir uns mit wärmeren und vor allem wasserabweisenden Sachen und machten uns nach einem wieder mal unglaublich liebevoll hergerichteten Frühstück auf den Weg.

Marc konnte es wohl gar nicht erwarten, jedenfalls knallt er los, als wenn es kein Morgen gäbe. Sogleich geht die Tachonadel nach oben. Alter…mach mal langsam, mir fliegen hier fast die Knochen weg. Eile mit Weile - wir haben den ganzen Tag Zeit heute, nicht hetzen! Er grinst und ist so voller Elan, macht nun aber deutlich langsamer. Wir haben gar keine Zeit, uns zu ordnen - es geht sofort wieder bergan.

Die Landschaft um uns herum war die klassische Bilderbuchidylle. Saftig grüne Wiesen, Kühe und Schafe, die uns anblökten und das eine oder andere schick herausgeputzte Dörfchen. Zwischendurch auch ein paar verlassene und verfallene Gebäude und Höfe. Dann immer mal ein kleines Wäldchen, ein Flusslauf, kleine Straßen ohne jeglichen Verkehr. Alles sehr niedlich - und dabei merkte ich nur an den Digits meines Garmin, dass wir hier schon wieder 6 % Steigung hatten. Wir rollen an der Zschopau entlang durch Ortschaften mit lustigen Namen, wie z.B. Warmbad, Geyer und Elterlein, konnten ein paar Kletterern bei kraxeln in einer Felswand zusehen und stemmten uns in die ersten Wellen des heutigen Tages. Kilometer um Kilometer, hoch und runter, immer und immer wieder. Keine Flachpassage, kein Geplänkel, nichts - Rampe runter, Kurve, Rampe rauf.  Und dabei immer wieder der flehende Blick nach oben. Neben uns zog es schwarz-dunkel zu. Hoffentlich regnet es nicht!

So langsam kamen wir richtig auf Temperatur, denn die Höhenmeter summierten sich schon ganz ordentlich. Durch den bedeckten Himmel war heute leider nicht so tolle Fernsicht, wie an den vorangegangenen Tagen, aber das tat unserer guten Stimmung keinen Abbruch. Auch wenn es nun anfing zu tröpfeln. Zunächst noch ganz zaghaft. Wir näherten uns Stück für Stück dem Anstieg zum höchsten Punkt unserer Tour. Die Spannung stieg. Immer wieder versuchten wir, den Fichtelberg vor uns auszumachen, aber er war irgendwie nicht zu sehen. Dafür tröpfelte es nun immer mehr. Mich nervt der Regen. Zwar nicht so stark, dass es mir die Klamotten durchnässt, aber immerhin so, dass schon bald die Beinlinge durch sind und auch schon die Schuhe beginnen, sich vollzusaugen.

In Rittersgrün erwartete uns dann die nächste Kontrollstelle und wir waren richtig aus dem Häuschen. Dieser Platz war mit so viel Liebe hergerichtet worden, dass wir nicht, wie an den vorangegangenen Stationen, nur kurz stempelten und weiterfuhren, sondern eine gefühlte Ewigkeit hier verbrachten. Es gab richtig viel zu entdecken. Ein gut mit allerlei Getränken und Süßigkeiten gefüllter Kühlschrank zur Selbstbedienung, Liegestühle, eine Wasserzapfstelle mit frischem Quellwasser, eine Pinnwand, an der man Grüße zurücklassen konnte und sogar W-Lan hatte man hier eingerichtet. Unglaublich.

Wir verputzten in aller Ruhe einen Schokoriegel, füllten unsere Trinkflaschen auf und hinterließen einen Gruß und einen Stahlradaufkleber an der Pinnwand. Da aber noch immer Tropfen vom Himmel fielen, machten wir uns auf in Richtung Oberwiesenthal. Und dann erreichten wir kurz vor Ehrenzipfel (noch so ein lustiger Ortsname) den Fuß des Anstiegs hoch zum Fichtelberg.

Quäldich.de schreibt zum Fichtelberg:

„Der wahrscheinlich bekannteste Berg im ganzen Erzgebirge liegt oberhalb von Oberwiesenthal nur unweit der deutsch-tschechischen Grenze. Nicht nur für Touristen ist er ein markanter und damit gern besuchter Aussichtspunkt, von dem man bei schönem Wetter einen sehr schönen Rundumblick genießt. In Radfahrerkreisen ist der Fichtelberg spätestens seit der Bergankunft der Deutschlandtour 2004 bekannt, wo Patrik Sinkewitz sein gelbes Trikot tapfer verteidigte.“

Die erste Kehre ist wenig spektakulär, ebenso, wie der ganze Berg hier unten. Eine schmale, unscheinbare Straße - ein Sträßchen - verschwindet in einer Rechtskurve steil ansteigend in dichtem Wald. Das war es auch schon. Man sieht nichts, auch weiter oben im Hang keine Anzeichen, wohin uns das schmale Asphaltband führen wird. Sofort zog es an. Nun hieß es, Kopf runter und kurbeln. Diese 15 km sind durchaus hart und anspruchsvoll, denn dieses Biest ist immerhin 1.215 m hoch und damit noch ein ganzes Stückchen höher, als z.B. der Brocken. Klingt nicht Ehrfurcht gebietend. Aber das sind eben nur die nackten Zahlen - der Fichtelberg ist viel mehr. Zunächst ganz sacht, aber von Minute zu Minute mehr. Und dieser Berg ist so ganz anders, als alle, die ich bislang gefahren bin. Das Profil des Fichtelberges ist ganz einfach erklärt. Es geht einfach nur geradeaus, geradewegs ganz schön steil nach oben. Keine Abfolge von kurzen Rampen und Serpentinen, sondern teils kilometerlange Geraden stur bergauf. Ein zum Teil furchteinflößender Anblick. Steht man unten am Fuße der Steigung, so türmt sich vor einem im wahrsten Sinne des Wortes eine Rampe in den Himmel auf. Links und rechts dichter, dunkler Wald, der jetzt, im Frühling durch das frisch sprießende Grün einigermaßen verlockend und gnädig aussieht, klafft am Ende eines schwarzen Tunnels, ganz weit weg, ganz weit oben, das Ziel.

Dazwischen liegt pure Anstrengung.

Ich pedalierte und nur langsam zeigte mein Garmin, dass ich höher kam. Allerdings wirklich nur langsam. Ich freute mich über jeden Höhenmeter, den das Navi anzeigte. Und der leichte Regen wurde stärker. Erst tröpfelte es ein wenig und dann ganz feiner Sprühregen. Hatte ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ich Regen beim Rennradfahren hasse? Ich fluchte wieder mal…Bleibt uns denn nichts erspart? Kann es nicht einfach mal nur 18, 19 Grad haben, die Sonne scheinen und gut? Die Straßen waren nass, sodass ich nach wenigen Kilometern schon an den Beinen durch die Beinlinge und auch am Hintern und Rücken durch Bibshort und Jacke durchnässt bin. Vom Vorderrad spritzte stetig Wasser an den Rahmen, das dann, fein zerstäubt, meine Schienbeine nass hielt. Hinten schoss das Wasser direkt in die Hose. Mit der Nässe kommt die Kälte. Ich zittere. Nur eine Temposteigerung kann mehr Wärme produzieren, alles etwas angenehmer machen. Das kostet aber mehr Energie. Paradox.
Zu allem Überfluss ist der Fichtelberg auch noch touristisch stark frequentiert, d.h. hier teilte man sich die Straße nun mit vielen Autos, Motorrädern und Quads.

Wer hatte sich das nur ausgedacht und warum tat ich mir das eigentlich an?

Mag die Steigung im Schnitt auch nur bei 7% liegen, einzelne Abschnitte sind auch hier schön zweistellig. Fünf Kilometer vor dem Ziel dann der Scharfrichter mit 16 Prozent Steigung - kurz, aber richtig steil. Im Wiegetritt gehe ich zitternd auf die letzten Kilometer zum Gipfel. Zum ersten Mal wurde mir berghoch nicht warm, zum ersten Mal habe ich hier nicht geschwitzt. Der Wind und die Nässe sorgten dafür, dass mir trotz der Anstrengung kalt war. Ich kurbelte und kurbelte und war froh, nach knapp einer Stunde den Gipfel erreicht zu haben. Schnell die Stempelkarte in den Automaten und dann kurz auf Marc warten.

Boh, war das ungemütlich hier oben. Nur knapp 4°, Wind und Sprühregen. Ich zittere wie Espenlaub. Hände unter die Achseln, aufwärmen. Das geht bestimmt auch deutlich schöner.

Nachdem Marc dann auch gestempelt hatte und wir noch fix ein Foto auf dem Gipfel geschossen hatten, machten wir uns direkt auf in die Abfahrt, denn hier war es einfach viel zu kalt. Allein die Minute Stillstand zum Fotografieren reichte, um mich vor Kälte schlottern zu lassen. Mich trieb nur ein Gedanke: Schnell runter, da ist es 4, 5 Grad wärmer! Und es fühlte sich schon fast wieder so an, wie im vergangenen Jahr am Col de Izoard. Damals hatte ich mir gesagt, nie wieder im Regen und kalt bergab fahren! Aber es half nix, wir mussten da jetzt durch. Einfach rollen lassen sollte man hier allerdings besser nicht. Ich ließ deshalb die Bremsen nur im oberen Teil und kurz nach der 90° Kurve los - sonst bremste ich mich runter. Die Rampen sind zu steil - kaum lässt man die Bremse los, erreicht man 60, 70 km/h. Im Regen, bei klirrender Kälte und nasser Fahrbahn. Gischt wird hochgeschleudert. Bremsen, immer bremsen!

Schon nach kurzer Abfahrt schmerzen uns die Hände und Handgelenke von den irren Bremskräften, die wir fast stetig aufbringen müssen. Mehrmals bricht das Hinterrad aus - Fehler, die man sich nie leisten sollte. Hier, bei dem Verkehr, schon gar nicht. Sterben muss heute nicht sein ...Wer hier abfährt sollte das eher wie auf rohen Eiern tun. Ich musste öfter schlucken - die hart erarbeiteten Höhenmeter klackerten wie ein irre gewordener Stromzähler herunter. So zitterten wir uns nach unten und waren heilfroh, Oberwiesenthal unbeschadet erreicht zu haben. Es war wirklich scheißekalt.

Und direkt in Oberwiesenthal wartete die nächste fiese Rampe auf uns. Es ging aus dem Stand mit 11,8% im Schnitt (!) nach oben. Nur 300 Meter, aber die taten richtig weh und kosteten richtig viel Körner.

Und aus dem „feinen Landregen“ war nun ein richtiger Guss geworden. Es schüttet wie aus Kübeln. Es regnet Fäden. Mir stand die Gischt auf der Brille, ich konnte kaum noch etwas sehen. Seit fast 2 Stunden fuhren wir im Regen. Sicher, es waren keine Wolkenbrüche, aber hey - Regen. Nass. Ich war bis auf die Knochen durchnässt. In meinen Radschuhen (Scheiße, warum hatte ich keine Überschuhe an?) stand das Wasser. Die Fingerkuppen spürte ich kaum noch. Wahnsinn, irgendwie schon bekloppt, wer bei einem solchen Wetter durchs Erzgebirge fährt. Und der berüchtigte Anstieg nach Bärenstein wartete in weiter Ferne noch auf uns. Und Schmiedeberg auch. Und Drei-Brüder-Höhe…

Bärenstein ist berüchtigt? Warum?

Ganz einfach, dieser Kanten hat glatte 20% Steigung (!!!). Nein, wir hatten keine Angst. Nein, ich würde es eher Respekt nennen. Jeder sprach vorher von diesem Anstieg. Ja, der Fichtelberg wäre hart, aber Bärenstein…uiuiui…

Mir sagte der Name Bärenstein vor unserer Tour nix. Es soll "ganz schön krass" sein, hatten sie gestern im Hotel gesagt, aber hey, ich bin das Stilfser Joch, den Izoard und den Galibier gefahren, da kann doch nix Schlimmes kommen, oder? Pustekuchen. Wie beschreibe ich das nur? Also: Bärenstein ist ... ein scheißkrasser Mist-Hammer! Das war meiner Meinung nach der schlimmste Anstieg des ganzen Wochenendes und ich war kurz davor abzusteigen. Am tiefsten Punkt der Tour (725 Meter) beginnt der Anstieg. Die Bergstraße bringt uns auf den Bärenstein und zum dortigen Aussichtsturm. Dort steht die nächste Stempelstelle. Zum Glück ließ der Regen langsam nach.
Ich schaltete direkt am Fuß des Anstiegs auf mein 27 Zähne großes Ritzel und ging locker kurbelnd in die Vertikale. Eines war klar, war ich erst einmal unterwegs, musste ich auch oben ankommen. Ausklicken, anhalten und verschnaufen - um dann weiterzufahren - war hier unmöglich! Es ging sofort mit 16% los. Der hier unten ausnahmsweise extrem schlechte und löchrige Asphalt erschwerte das Fahren. Bei Nässe droht - vor allem auf den Gullideckeln - ein Durchdrehen des Hinterrades. Dabei ist mir dann vollkommen überraschend die Kurbel durchgegangen. Beste Chancen, um ins Schlenkern zu geraten. Also die Gullideckel meiden!

Mir stand der Mund offen - vor Anstrengung und Erstaunen. Nach dem ersten Drittel kam eine scharfe Rechtskurve - für zwei, drei Meter wurde es "flacher". In homöopathischer Dosis. Nicht einlullen lassen! Sogleich zog der Gradient wieder erbarmungslos an. Im Mittelstück: Erwähnte ich schon, dass es sausteil ist? Nur 40, 50, vielleicht maximal 80 Meter lang, aber so unglaublich steil, dass man hier nicht mehr hätte anfahren können, wenn man ausklicken würde. Wir rissen an unseren Lenkern, traten in die Pedale und warfen uns mit all unserem Gewicht in den Wiegetritt. Rund konnte man den hier nicht mehr nennen. Langsam, quälend langsam ging es voran. 3, 4 km/h, schneller konnten wir das hier nicht meistern. Ich überholte in Zeitlupe ein Fußgängerpärchen und hörte nur verschwommen wie der Mann sagte: „Qual dich!!!“

Antworten ging nicht, ich hatte keine Luft dafür. Ich war schon froh, dass ich überhaupt atmen konnte. Ansonsten traute ich meinen Augen kaum, nur widerwillig willigten meine Muskeln ein, diese schrägen Ebenen zu treten. Immer, wenn ich auf das Garmin blickte, standen da zweistellige Prozente. Nur der eiserne Wille hat mich da hochgetrieben. So einen Kackberg hatte ich noch nie erlebt und ich bin schon einige gefahren! Kurz vorm Gipfel ging mein Garmin plötzlich in den Pause Modus.

Alter Schwede war das steil!

Ich bewegte mich, wenn man überhaupt noch von Bewegung sprechen konnte, im 1.Gang im Wiegetritt mit vielleicht 5 km/h. Wenn man aufhören würde zu treten, würde man sofort rückwärts rollen. Keine Entspannung. Immer volle Kraft auf dem Pedal. Och nööö. Noch so eine fiese Rampe? Quälerei bis zur Kotzgrenze. Ich drückte, ich zog, ich prustete. Der Schweiß tropfte literweise aufs Oberrohr. Meine Beine drohten zu platzen und dann war es geschafft. Eine gefühlte Ewigkeit und ich war oben. Das Mistding hatte verloren…f*** y** Bärenstein. Du schaffst mich nicht! Du nicht!

Und Marc? Irgendwann kam der Arme angeschnauft. Im Wiegetritt kämpfte er sich hoch, wuchtete Körper und Rad von einer Seite auf die andere und schon von weitem hörte ich das Ächzen des Tretlagers. Er schnaufte an mir vorbei wie die Brockenbahn unter Volldampf. Ich schoss schnell noch ein, zwei Fotos. Oben angekommen, Stempelstelle, kurzer Fotostopp und runter. Einfach rollen lassen. Herrlich. Kühlender Wind auf der Brust, Kette auf dem großen Blatt (komischer Anblick) und mal nicht treten. Noch immer hämmert mein Puls, noch immer zwicken die Beine, meine Atemluft ist heiß wie Hochofen-Hitze. Aber das Wetter besserte sich. Je weiter wir in Richtung Schmiedeberg kamen, desto mehr riss über uns immer wieder die Wolkendecke auf. Kleine blaue Inseln und - da! - hin und wieder auch mal ein Sonnenstrahl kündigten besseres Wetter an. Hofften wir.

So fuhren wir Seite an Seite schweigend auf die letzten Herausforderungen des heutigen Tages und somit der gesamten Tour hin. Die letzte Kontrollstelle wartete - wie konnte es anders sein - oben auf dem höchsten Punkt des Anstieges nach Drei Brüder Höhe. Also nochmal kleines Blatt und größtes Ritzel und mit allem, was noch da war, hinein in den Anstieg. Das Tretlager knarzte, die Kette machte mahlende Geräusche, alles war nass. "Sag mal, hört das denn nie auf?", ruft es mir hinten in den Rücken. Marc´s Kräfte schwinden. Fast wie in Zeitlupe windet er sich selbst im Wiegetritt um die Kurbel, als hängen da 1.000 Tonnen-Gewichte dran. Mir geht es nicht besser.
Aber es war der letzte, der wirklich letzte Anstieg. Ich fuhr im Sitzen und grinste breit.

Oben angekommen, tanze ich innerlich vor Freude - die letzte Höhe ist genommen. Den Stoneman haben wir im Sack. Gegenseitiges Abklatschen, Stolz, es geschafft zu haben und mit Highspeed runter nach Marienberg, wo wir nach 6:24 Stunden im Sattel ankamen.

Es sind nun fast 20 Grad. Der Himmel zwar bedeckt, aber immer wieder reißt ein wilder Wind die Wolken in wirre Fetzen, dann lugt das satte Blau des Himmels hervor, dann strahlt die Sonne, als wäre heute nie etwas anderes gewesen.

Was für ein Moment, wenn man realisiert, dass man es geschafft hat. Ich freute mich wie ein kleines Kind. Das Ende einer perfekten Geschichte.

Es war sportlich durchaus anspruchsvoll, aber wir genossen die Landschaft, lernten neue, absolut sehenswerte Ecken kennen und hatten ein rundum gelungenes Radwochenende. 

Der Stoneman Road ist ein ziemlicher Riemen – aber machbar.

Wahrscheinlich nicht nur ich platzte vor Stolz, als uns die Herbergsleitung unsere Trophäen in die Hand drückte.

Drei wundervolle Tage. 329 Kilometer und 6.266 Höhenmeter standen am Ende auf dem Garmin. Kein Platten, kein Defekt, kein Sturz. Viel Spaß, tolle Eindrücke, ein sagenhafte Strecke, durchweg freundliche und hilfsbereite, auskunftsfreudige Leute.

Um die Landschaft und das kulinarisches Angebot genießen zu können, waren die drei Etappen perfekt aufgeteilt. Weniger Tage müssen wirklich nicht sein. Klar, man schafft das Ganze auch gut in zwei Tagen. 1 Tag ohne Begleitfahrzeug ist zumindest für uns undenkbar.

Warum auch?

Hier geht’s um Genuss, gepaart mit sportlicher Herausforderung. Es geht um riechen, schmecken, fühlen. Um bewusstes Erleben. Und ganz nebenbei sieht man, dass hier der Stoneman mit viel Liebe zum Detail „gelebt“ und nicht nur verwaltet wird. Überall spürte man die Gastfreundschaft und die Leidenschaft hinter diesem Projekt.

Davon kann sich so manch andere Region gern eine dicke Scheibe abschneiden!








Tour de Erzgebirge 2.0

Eine wunderschöne Region, super tolle Rennradstrecken, freundliche Leute und längst nicht so überlaufen wie die Hotspots in den klassischen Raddestinationen. So einfach lautete das Resümee unserer ersten Erzgebirgstour im Mai. Ich erinnere mich daran, wie ich am Ende unseres Trips in Marienberg auf den Hof des Hotels rollte, die letzten Meter. Den ganzen Kopf voller überwältigender Eindrücke, die Beine leer, aber gut gelaunt. Zwei Meter noch. Ich klickte meinen Schuh aus. Einen Meter noch. Ich bremste. Hielt an. Die Tour war vorbei. Stolz wie Oskar machte ich ein Foto. Atmen. Einfach nur atmen.

Ich schaute auf die Karte und dachte mir - nun war es das. Das war die letzte Etappe. Vorbei. Aus. Ende. Nun ging es auch schon wieder heim. Unfassbar. Augenblicklich waren auch die Wadenschmerzen verschwunden. Weg, hinfort, ebenso, wie all die Strapazen dieser Tour. Am Abend fanden wir vor Ort noch einen großartigen Italiener und ließen uns nieder. Die Leute waren entspannt und fröhlich. Wir aßen eine Riesenportion Nudeln und versuchten, die Etappe, nein, die ganze Tour Revue passieren zu lassen. Es waren drei traumhafte Tage. So großartig, so toll das Gefühl, es geschafft zu haben, so überwältigend die Endorphine, die durch meinen Körper schossen und immer wieder dieser eine Satz, der immer wieder in meinem Kopf aufblinkte: „Du hast den Stoneman gerockt!“

Es ist vielleicht dieses eine Gefühl, diese kleine Millisekunde, eine kleine Feststellung, eine Erkenntnis, die mich so unendlich glücklich und stolz machte - und die keiner nachvollziehen kann, der es nicht selbst schon einmal erlebt hätte. Ich habe also den Stoneman gerockt! Wie cool ist das denn bitte?

Als ich am nächsten Morgen im heimischen Bett aufwachte, da war kein Druck, keine Strecke, die ausgedruckt neben mir auf dem Nachttisch lag, keine gezackten Höhenprofile, die mich abschreckten, keine Distanzen, die ich schaffen musste. 8 Uhr? Was soll´s, ich drehte mich noch einmal um und schlief wieder ein. Ich konnte es mir leisten - ich war ja da. Angekommen. Plan geschafft. Erledigt. Abgehakt. Gegen 10 Uhr erwachte ich wieder und fühlte mich erholt. Ich hatte mir einen Traum erfüllt.

Und wisst Ihr, was das Beste daran war? Ich hatte noch nicht einmal meine verschwitzten Radklamotten ausgepackt, da überlegte ich schon, welchen nächsten Traum ich mir erfüllen könnte. Ganz nach dem Motto des Dalai Lama´s, der auf die Frage, was Glück für ihn bedeuten würde, antwortete: „Verbringe jeden Tag einige Zeit mit dir selbst.“

Durch den Corona-bedingten Wegfall des eigentlichen Saisonhighlights 2020 zeigte mein Urlaubskonto noch eine freie Woche im Juli an. Ursprünglich war vorgesehen, mit dem Rad von Laatzen aus nach St. Anton in Tirol zu fahren und dann dort beim Arlberg Giro zu starten. Eine Deutschlandtour mit kleinem österreichischen Anteil sozusagen. Nur leider wurde der Arlberg Giro (wie so viele andere Großereignisse auch) abgesagt und so konnte diese Tour (zumindest im Jahr 2020) nicht stattfinden.
Also suchte ich nach einer passenden Alternative. Außerhalb der heimischen Region, leicht hügelig und schön. Und sie sollte natürlich ohne epische Anreise zu erreichen sein. Das waren die Vorgaben. Und da Marc und ich im Mai schon mal den Stoneman im Erzgebirge absolviert hatten und völlig begeistert waren, entschieden wir uns dafür, die Route einfach nochmal zu fahren. Nicht irgendwann mal, nicht in ein paar Jahren, nein, direkt im Juli, knapp zwei Monate nach unserem ersten Trip. Und deshalb hieß es für mich: „Glücklich sein heißt nicht, das Beste von allem zu haben, sondern das Beste aus allem zu machen.“

Das war der Plan. Aus den gegebenen Umständen das Beste machen. Die Vorfreude war riesig.

Leere Straßen abseits vom Massentourismus und weit weg vom Lärm. Natur, Berge, unglaubliche Farben, Idylle, traumhafte Touren. Das war fast schon eine Wallfahrt. Diese Landschaft ist einfach unbeschreiblich schön. Und fast vor der Haustür. Das Gute kann manchmal so nah sein. Das Harte übrigens auch :-).

Vier Stunden mit dem Auto und man kommt in ein wahres Rennradparadies. Ein unterschätztes Paradies. Denn der Stoneman Miriquidi ist kein Event im herkömmlichen Sinne, sondern jeder kann sich dort anmelden und die Route zwischen Mai und Oktober für sich oder mit anderen fahren. Man muss sich nur entscheiden, ob man die Challenge an ein, zwei oder drei Tagen machen möchte. Kein Massenstart mit Startschuss in Corona-Zeiten also, so dass ich zusammen mit Marc still und heimlich einfach loskurbeln konnte. Zu unseren Bedingungen. Mit unseren Vorstellungen. Mit Start und Ziel in Oberwiesental.

Drei Tage haben wir uns dafür gesetzt. Das dies immer noch sportlich ist für einen Flachländer wie mich, ist nicht von der Hand zu weisen, trotz etlicher Höhenmeter im Training der letzten Monate.

Und so haben wir es wieder getan. Wir waren wieder im Erzgebirge unterwegs und haben den Stoneman Miriquidi Road zum zweiten Mal absolviert. Und noch etwas mehr. Eine Stoneman Extended Version sozusagen…haben dabei gelacht und gelitten, gebummelt und gebolzt, geheult und gebrüllt. Eine Männertour, mit Schweiß und Blut, mit Salz auf den Lippen und Öl an den Händen. Vier Tage und all die großen und kleinen Augenblicke in diesem wundervollen Land. Unzählige Eindrücke. Lasst euch auf diese Reise mitnehmen…

Organisatorisch ist das Ganze mehr als easy. Die Anmeldung erfolgt bequem online und alle Infos - inklusive GPS-Datei und Übernachtungstipps - gibt’s vorab per Mail.
Die Strecke ist vorgegeben, wirklich perfekt vorbereitet und am Ende müssen 13 Löcher in die Starter-Karte gestempelt sein. Das klingt einfach. Nur…die paar Löcher wollen hart verdient sein. Auf dem Garmin-Track sind insgesamt 33 Anstiege kategorisiert. So hieß es wieder mal drei Tage lang „leicht hügelig berghoch“.

Also schnell die Sachen im Auto verstaut und gut gelaunt ab nach Oberwiesenthal, Deutschlands höchstgelegener Stadt. Wir buchten das Hotel „Schanzenblick“ - der Name war Programm - und freuten uns wie die kleinen Kinder auf die kommenden Tage. Die Wetteraussichten waren grandios, Mensch und Material in perfektem Zustand und unsere Stimmung prächtig.

Gegen 15:00 Uhr sind wir an unserem Hotel. Das Einchecken und Auspacken geht zügig vonstatten und so beschließen wir, noch eine kleine „Einrollrunde“ zu fahren. Und was eignet sich besser zum einrollen, als der Fichtelberg?

Der wahrscheinlich bekannteste Berg im ganzen Erzgebirge liegt oberhalb von Oberwiesenthal nur unweit der deutsch-tschechischen Grenze. Mit 1.215 m ist er sogar noch gut 70 m höher als der Brocken. Von unserem Hotel aus sind es aber nur gut 400 Höhenmeter bis zum Gipfel…also los.

Übermütig stürzen wir uns in das Abenteuer und keine Stunde später stehen wir im Sonnenschein auf dem Gipfel und grinsen um die Wette. Wir sind sicher, die kommenden Tage werden überragend.

Bei unserem letzten Besuch hier oben konnten wir kaum etwas sehen. Regen und Wind ließen keinen langen Aufenthalt zu. Wir sahen zu, so schnell wie möglich hier oben wegzukommen. Und heute? Heute strahlte uns die Sonne ins Gesicht und es war nahezu windstill. Perfekte Bedingungen und eine traumhafte Aussicht.

Wir sind uns sicher - was so gut beginnt, kann eigentlich nur großartig werden.

Tag 1 - von Oberwiesenthal nach Seiffen

Der Tag beginnt, als wäre ich ein König. Er fängt überschwänglich mit kitschiger Morgenröte an. Fast schon theatralisch, was die Morgensonne da hinter den Wolken abzieht. Yeah! Heute geht´s aufs Rad! Ich wache auf und bin erstaunlich munter. Ich habe tief und fest geschlafen, aber bin sofort hellwach. Heute, heute ist „the Day“ - heute fahren wir unsere erste Etappe! Heute geht es wieder back on track, on the road again. Mein Element.

Ob Marc auch schon wach ist? Kurzer Check per WhatsApp - ja, ist er.

Ich springe aus dem Bett, alles ist perfekt. Das Frühstück, das Wetter, die Route. Marc tickt zum Glück genauso und so schwingen wir uns um kurz nach 09:00 Uhr voller Tatendrang auf unsere Räder und rollen los. Wir kommen schnell voran. Über uns glüht der Himmel. Ich zittere zunächst noch etwas in der Morgenkühle, aber nach drei, vier Kilometern bin ich warm gefahren. Schnell die Ärmlinge aus. Es fühlt sich wieder toll an, hier zu sein. Endlich wieder in meinem Element. Herrlich, ich blinzle in die Sonne und trete rein. Schnell finde ich meinen Rhythmus. Wir fahren wieder durch tiefen, dunklen Wald. Es wird hügeliger, merklich zieht die Straße an. Keine Felder mehr. Jetzt wechseln sich Wiesen und Wald ab. Dieser Geruch…es riecht nach Harz. Nach Fels. Nach Gebirge. Nach Urlaub. Was ich sehe, ist Wald. Links und rechts, Wald. Tiefer, dichter, grüner Wald. Und ich spüre, dass dies eine besonders schöne Etappe werden wird.

Komfortabel wie immer fahren wir auf dem breiten Seitenstreifen und wenn es den hier heute nicht gäbe, wäre es auch nicht schlimm, denn Verkehr ist hier keiner. Diese Ruhe hier. Diese Abgeschiedenheit. So schön.

Sonnenstrahlen fallen durch die frischen grünen Tannenzweige. Es riecht nach Kiefern. Kindheitserinnerungen werden wach. Der trockene, warme Geruch der Kiefern setzt sich bei mir in der Nase fest. Ein herrlich würziger Duft, den ich als angenehm empfinde. So hat es im Sommer zu Hause gerochen, wenn wir mit den Rädern zum Baden an den Baggersee gefahren sind. Ich trete rein. Wind im Helm, Schweiß darunter. Traumhaft.

Bei der Fahrt durch grüne Hügel und kleine Ortschaften scheinen all die Probleme dieser Welt ganz weit weg zu sein. Ein Film öliger Feuchtigkeit glänzt auf meinen Armen. Die Straße hebt sich an, die Temperaturen steigen, ich schwitze, liege auf meinem Madone und genieße. Kleiner Gang. 10 km/h. Und auf geht´s. Ich murre nicht, nein, ich freue mich - immerhin bin ich wegen der Berge hier her gekommen. Und immerhin kann ich diese jetzt schön groß vor mir sehen. Endlich mehr Berg. Mehr Detail. Manchmal halte ich einfach nur an und staune. Kleiner Mann mit großen Augen - ich bin überwältigt! Berge, Felder, Wald und Berge und Felder und Wald. Besonders abwechslungsreich ist das nicht, aber so schön :-). Ich schwitze wie verrückt, merke, wie es langsam beginnt, richtig in den Waden zu zwicken - aber ich habe gute Laune. Auf leichten Sohlen fliege ich die Hügel rauf und runter. Und merke wieder nicht, wie sie immer steiler werden. Und länger.

Bärenstein

Was hatten wir uns bei unserem ersten Stoneman-Abenteuer noch verwundert die Augen gerieben, als wir diesen Aufstieg hochgeeiert sind. Respektvoll hatten sie von diesem Anstieg gesprochen und wir hatten gedacht, die würden alle übertreiben. Haben sie aber nicht. Dieses Ding war wirklich scheiße steil. Fast 900 Meter hoch. Kurz, aber heftig. Und stellte sich nun erneut in unseren Weg. Da müssen wir hoch, da oben ist die erste Stempelstelle. Also Augen zu und durch! Respekt? Ja, klar. Aber keine Angst. Wer Angst hat, sollte sich diesen Herausforderungen lieber nicht stellen.

Und als die Rampe näher kommt, ich dieses kleine, schmale Asphaltband steil vor mir aufragen sehe, mittlerweile in der Sonne dampfend, da begreife ich, was die wahre Lektion unserer Touren ist: Erleben, ganz bewusstes Erleben. Vielleicht ist es das, was wir lernen sollten. Niemals einfach so nebenbei das tun, was man tut. Bewusstsein und Konzentration auf das Wesentliche. Niemals einfach so, unvorbereitet und mit einer - na ja, wenn nicht, ist es auch egal - Einstellung an die Dinge gehen, die man schaffen will. Das gilt für das ganze Leben, denke ich, aber speziell auch für das Radfahren. Das hier ist mitnichten ein Radabenteuer á la "ab ins Unbekannte". Immerhin kennen wir diesen Kurs schon. Was ich hier treibe, ist weder extrem, noch etwas Besonderes. Diese Strecke haben vor mir schon Hunderte bewältigt und es werden nach mir auch Hunderte schaffen. Aber - und hierauf kommt es an - es ist trotzdem eine richtig harte Prüfung, die volle Aufmerksamkeit verlangt. Auch wenn die Steigungen - und sind sie noch so hart - nicht einmal annähernd an Alpen- oder Dolomitenpässe heranreichen, dies hier ist ein Grenzgang. Und genau so sollte man auch an jede Etappe heran gehen.

Ich grinse, bin zufrieden im hier und jetzt und bleibe direkt hinter der nächsten Kurve im Berg stecken. Jetzt erinnerte ich mich wieder. Die Steigung begann direkt hinter der Kurve. Wobei, Steigung will ich das nicht nennen. Das trifft es nicht. Ich nenne es mal...Wand. Kleinster Gang. Schon ganz am Anfang. Garmin sagt 14% Steigung. So kurbele ich mich durch die erste Kurve nach oben. Oh Gott, war das hier beim letzten Mal auch so krass? Die erste Rampe trete ich empor und glaube, ich ticke nicht richtig. Es ist so steil, dass ich nicht einmal mehr 8 km/h erreiche! Peinlich, wenn sogar Fußgänger und Wanderer kaum langsamer sind.

200 Meter geschafft. Jetzt sind es 16%. In Strömen läuft mir der Schweiß herunter. Ich bekomme den Blick nicht weg von der Straße. Ich ziehe, ich drücke und fluche. Und wieder 200 Meter. Das gibt’s doch gar nicht! F***, ist das heftig. Zweite Kurve. Ich bin tot. Es wird wieder steiler. Dritte Kurve. Ich will Doping. Sofort! Ein kurzes flaches Stück - nur 9% Steigung. Vierte Kurve. Und wieder geht’s zweistellig weiter. Ach, leckt mich doch am Arsch! So krieche ich den Berg hinauf.

Völlig außer Atem und mit brennenden Beinen erreiche ich die Stempelstelle.

Mein Herz schlägt Purzelbäume, meine Lungenbläschen fallen mir aus dem Mund, die Waden glühen und mir steht das Wasser zwischen Bein und Hose, so hart war diese Steigung. Ich lasse mich ins Gras plumpsen und liege einfach da. Eine gefühlte Ewigkeit. Marc kommt ein wenig später. Wieso sieht der nicht so fertig aus? Was für ein Zeug nimmt der? Ich will das auch!!!

Schweigend sitzen wir im Gras. Da macht die Rast doch doppelt Spaß - in der Natur sitzen, Power-Riegel essen und mit sich, dem Wald und in Gedanken versunken allein sein. Und Stille. Absolute Stille.

Herrlich.

Keine 5 Minuten später ist schon wieder alles vergessen. War hier gerade ne Steigung? Echt? Egal, ab auf´s Rad und mit Schwung in die Abfahrt. Dieses Mal regnet es nicht. Dieses Mal können wir es krachen lassen. Wir fliegen das kurze Stück bergab. Großes Blatt, kleines Ritzel und gib ihm. Ein Fest, ein Rausch, ein Speed-Festival. Der Fahrtwind kühlt die schweißnasse Haut und ich brülle: „Das Leben ist schön“ in die Menschenleere Gegend. Ein paar Kühe schauen kurz auf und grasen dann gemütlich weiter. Im Dunst eines Morgens, der zwar nicht mehr rot glüht, aber dafür glühend heiß ist. Fantastisches Radfahrwetter - allerdings zieht mir die Sonne das Flüssige nur so heraus. Trinken, bevor der große Durst kommt. Aber der teure Power-Drink schmeckt leider nicht mehr besonders gut. Die Sonne hat den Inhalt meiner Trinkflaschen mittlerweile dermaßen aufgeheizt, dass ich das Gefühle habe, an einer englische Teestunde mit frisch Aufgebrühtem teilzunehmen, anstatt mich zu erfrischen und abzukühlen. Aber kann das die gute Laune trüben? Ne, absolut nicht, es ist egal.

Ich versuche mich abzulenken, mit den grandiosen Ausblicken, die ich auf die Wälder und die Hügel habe. Wie Happen zum Anfüttern wird mir eine Aussicht nach der anderen vor die Augen geworfen - hinter jeder Kurve, nach jedem Anstieg, hinter jeder Brücke wartet eine neue Postkartenansicht. Ich mache Fotos, als gäbe es das alles hier morgen nicht mehr. Neben mir ragen die steilen Gipfel der Felsen schroff in die Höhe. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die Autofahrer hier sind absolut vorbildlich. Kein Schneiden, kein Drängeln, kein aggressives Hupen - man fährt umsichtig, hält Abstand und lässt uns machen. Einige recken sogar den Daumen nach oben. Ich genieße das sehr. Bei Großrückerswalde steigt uns der ganze Duft der blühenden Rapsfelder in die Nase. Während die Felder bei uns zu Hause bereits verblüht sind, gehen sie hier erst gerade auf. Dazu gibt es eine Fernsicht, die fast unschlagbar ist. Doch jede Fernsicht muss hart erarbeitet werden.

Langsam ziehen die Steigung wieder an und es wird noch heißer. Ich muss heftiger treten, öfter Gänge zurück schalten und freue mich, dass wir nun durch einen Wald fahren, der Schatten und etwas Kühle bietet. Schwer geht es, aber es ist so wunderschön hier, so belebend, so überwältigend, dass es sich schon tausendfach gelohnt hat, diese Strapazen auf sich zu nehmen. So geht es rauf und runter. Immer wieder. Mal lang gezogen und kaum merklich, dann wieder sehr steil und giftig, dafür kurz. Die Abfahrten sind entsprechend: Entweder lang und kaum zu merken, oder schnell, aber dafür nur sehr kurz. Wie in einer Achterbahn geht es mal hoch, mal runter, dann wieder hoch, dann wieder runter. So rollen wir auf Schmiedeberg zu. Wobei rollen? Nein, wir kämpfen schon wieder mit den Steigungsprozenten. Wo es vor einer Stunde noch mit flotten 30 km/h abging, schaffe ich hier am Berg gerade mal 8 - 10 km/h. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Ich kämpfe. Kämpfe wirklich. Und puste. Und atme. Und trete. Und stöhne. Und genieße. Schweiß rinnt in Strömen und meine Trinkflasche - scheiß auf die warme Brühe! - leert sich beängstigend schnell. 7 km/h. Jetzt wird´s lustig. Sieht gar nicht so steil aus, oder?

IST ES ABER!

Immer wenn ich eine Steigung geschafft und mich ein wenig bei einer bescheidenen Abfahrt erholen kann, steht da auch schon gleich der nächste Anstieg für mich bereit. Nicht sehr lang sind diese Rampen. Und auch nicht wirklich steil, denke ich. Aber fies sind sie! Ach herrlich, nur bergab wäre ja auch langweilig gewesen. Diese Berge spielen mit mir. Tun so, als wäre alles vorbei. Und hinter der Kurve geht´s wieder los. Humor muss man eben auch haben, als Radler. Müdigkeit kriecht die Beine hoch. Eine schmeichelnde, verführerische Stimme, ganz weit hinten im Kopf, mahnt zu einer Pause. Sagt mir, dass ich hier niemandem etwas beweisen muss. Dass ich kein austrainierter Profi sei. Ich doch ruhig mal anhalten könnte. Ich es mir verdient hätte. Ich ignoriere meinen Schweinehund - nix mit Anhalten hier! Wir fahren da jetzt hoch. Du und ich. Wir beide. Basta!

Es duftet frisch. Heiß ist es und - hatte ich es schon erwähnt - ich schwitze. So kurbele ich hinauf. Meter um Meter. Ich schaue nach links, wo grüne Bäume ein weites, tief geschnittenes Tal bewachsen, schaue zum Horizont, egal wohin, Hauptsache nicht nach vorn, wo ich über mir - weit, weit weg - das Ende der Steigung sehen kann. Hunderte schwerfällige Umdrehungen entfernt.

Es brennt.

Es brennt von oben unerbittliche Sonnenstrahlen, es brennt von unten, eine wabernde Hitze, die aus allen Poren des kochenden Asphalts gekrochen kommt, es brennt von Innen, wo siedend heißes Blut an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit durch meine Adern schießt und versucht, Sauerstoff zu den Muskelsträngen zu bringen. Nur noch bis da hinten, da, hinter der Kurve - dann hab ich es geschafft. Hoffe ich. Und wehe, wenn nicht! Ich kurbele und kurbele. Wieder allein mit mir. Mit mir, der Steigung und meinen Gedanken. Ach schön. Steigung und Hitze - heute werde ich also mal so richtig in den Arsch getreten! Ich zucke mit den Schultern und fahre einfach weiter. Was hilft es auch, sich jetzt hier Gedanken zu machen?

Wenn ich meinen Stoneman haben will, muss ich hier durch.

So also ist das, wenn man in der sengenden Sonne fährt, denke ich mir. Bei der Tour de France sieht das alles immer so einfach und idyllisch aus. Hier ist das ein ganz anderes Bild. Und dabei habe ich es noch vergleichsweise gut. Ich kann relativ entspannt hier hochkurbeln, habe keine schnaufende Konkurrenz im Nacken, fahre nicht unter Zeitdruck (naja, vor Marc will ich schon oben sein...) und muss auch keinen Sponsor mit Bestleistungen beglücken. Die Hitze steht. Kaum noch Wind. Und dann stehe ich oben. Auf einmal. Wie es immer bei Bergen ist. du mühst dich ab, bist fertig mit der Welt, schaust doch immer wieder nach oben, auf den Garmin, beginnst Turnübungen für dein Gehirn, indem du komische Berechnungen anstellst, wie viele km und wie lange denn diese Scheiße hier noch weitergehen soll, du beginnst, in Selbstgesprächen über die Sonne herzuziehen, meckerst mit Steinen, die dir im Weg liegen und rufst leise den Autofahrern hinterher, die, wenn sie dich überholen, extra langsam eine Weile neben dir herfahren und gaffen. Und dann plötzlich oben. Gipfel. Anhalten, ausklicken und stehen. Ich stehe einfach da und warte. Warte, bis das Blut in meinen Waden aufhört zu kochen. Warte, bis mein Puls nicht mehr hämmert. Warte, bis Marc kommt. Warte, bis wir uns angrinsen. Höre mich sagen, wie geil das hier ist und weiter geht’s nach Drei Brüder Höhe. In Wahrheit brennen mir die Waden. Aber wer gibt das schon gern zu?

Und welch´ Freude, wenn die Strecke abkippt und wieder eine Schussfahrt ansteht. Dann freue ich mich, dann macht mir auch die Sonne nichts aus. Dann genieße ich den Wind, der meine Haut kühlt, schaue in die Weite und labe mich an dieser wilden, grünen Hölle, die mich so fertig macht, die mich aber auch permanent grinsen lässt und so unendlich - und wenn es nur 2 Kilometer bergab ist - belohnt für meine Mühen.

Dann die kleine Steigung hinein nach Seiffen. Sie ist armselig nach den ganzen Bergen heute, nimmt mir keinen Speed. Ich schieße über sie hinweg, einfach so, kommentarlos. Bergan? Geht es hier nicht, ich bin viel zu schnell. Und schon kann ich das Ortseingangsschild sehen…

Yes, geschafft…die erste Etappe ist „im Sack“. Ein zufriedenes Lächeln liegt auf meinem Gesicht. War doch gar nicht so schwer oder?

Wir rollen langsam aus zu unserem Hotel und genießen erstmal eine abkühlende Dusche. Ein toller Moment, wenn das Wasser prasselt und die Anspannung weicht…

Ein perfekter erster Tag auf der Strecke. Nicht zu lang, trotzdem fordernd, mit traumhaften Aus- und Einblicken und nun noch genügend Zeit, diesen kleinen Ort zu erkunden. So machen wir uns zu Fuß auf den Weg durch Seiffen, schlagen uns ordentlich den Bauch voll und freuen uns auf morgen. Auf den zweiten Tag „leicht hügelig berghoch“.

Tag 2: von Seiffen nach Marienberg

Ich habe tief und fest geschlafen. Träumte von endlosen Aufstiegen durch tiefe, heiße Wälder und war im Schlaf mindestens noch einmal 100 km gefahren. Ein bisschen gerädert stehe ich auf, Dusche und beginne, meine Sachen zusammenzupacken. Heute steht die mit Abstand längste Etappe auf dem Plan. Unsere Königsetappe.

Also los geht´s!

Zunächst aber - ich erinnere mich noch genau an DIE Anfahrt gestern nach Seiffen, diese wunderbaren, unübertrefflichen, ansteigenden Kilometer hinein in diese kleine verspielte Städtchen - nun muss ich sie weiter hinauf. Direkt vom Hoteleingang hinein in die Steigung. Und die hat es auch in sich. Diese lässt gleich zu Beginn keinen Zweifel daran, was mich heute erwarten würde: Berge satt. Der Ort selbst ist eine einzige Steigung. Sanft zwar, leicht zu fahren, aber bergan ist bergan. So fahren wir langsam durch die Straßen. Die Leute starren uns an. Schon wenige hundert Meter hinter unserem Hotel empfängt uns der erste richtige Anstieg. Die Straße wünscht uns einen wunderschönen guten Morgen…mit 14%!!!

Noch nicht einmal zehn Minuten auf dem Rad und schon ausgebremst, schon schnaufend, schon außer Puste. Es geht zum nächsten Stempel. Es geht hinauf zum Schwartenberg, mit rund 790 Metern der höchste Berg im Osterzgebirge, der nun der nächste Checkpoint sein sollte. Und der hat es in sich. Hier sieht es hier aus wie auf der perfekten Landschaft einer Eisenbahnplatte. Dazu haben wir die Straßen fast für uns allein. Es ist noch früh. Kein Verkehr, keine hetzenden Autos. Hier herrscht wirklich Ruhe. Ich genieße es. Genieße diese Mühen. Kurve um Kurve. So schraube ich mich hinauf. Steil und unbarmherzig zieht sich die Straße empor. Zähne zusammenbeißen, Augen zu und durch!

Ich trete im kleinsten Gang - und komme doch kaum von der Stelle. Ich kurbele wie in Zeitlupe. 11 km/h. Hinter mir Marc in einem höheren Gang. Superzeitlupe. Auch hier wieder - die Geraden sind gerade so machbar, doch in den Kurven scheint der Grad der Steigung noch einmal zuzunehmen. Und so verlangen 20 Meter Kurve mehr, als 500 Meter Anstieg. Dann ist es geschafft.

Wir sind oben.

Ich stehe da und staune.

Schaue in diese unglaubliche Weite der Landschaft, bin überwältigt von diesen 360° Panoramablick und genieße. Genieße das hier und jetzt. Dieses unglaubliche Gefühl der Freiheit. Es ist ein berauschender Anblick.

Ich freue mich. Vor allem freue ich mich auf die Abfahrt.

Keine Frage, die Sonne hat einen richtig guten Tag heute - sie schleudert Ihre heißen Strahlen verschwenderisch in die Umgebung, erhitzt alles, lässt uns dampfen und kochen. Aber nun bekomme ich meine Abfahrt. Den verdienten Lohn der Arbeit. Unter mir liegt eine weite, weite Ebene, ich kann über einen Talkessel riesigen Ausmaßes blicken, folge mit meinen Augen der schlangenlinienartigen Straßenführung, bis ganz nach unten, freue mich, beschleunige und schieße hinab.

Geil, geil, geil!

Ich nehme richtig Geschwindigkeit auf. Dann kommen die Kurven - sanft hineinbremsen, ja nicht zu viel Geschwindigkeit opfern, ich lege mich in sie hinein, wie auf Schienen geht’s hindurch. Kurvenausgang: Das Rad aufrichten, Bremse lösen und den Schub fühlen, Wahnsinn, was ein, zwei km/h mehr ausmachen. Ich jauchze mich von Kurve zu Kurve, es kann mir gar nicht schnell genug gehen. Der Wind knallt mir regelrecht um die Ohren, mein Trikot flattert im Fahrtwind, der Freilauf schnarrt, ich bin schnell, sehr schnell. Kein Auto kann mich hier überholen - im Gegenteil, in den Kurven, die ich mit 50 durchfahren kann, müssen sie sogar bremsen. So schieße ich ins Tal, eine gefühlte Ewigkeit schwelge ich im Abfahrtsrausch, Tränen fließen meine Wangen entlang, ich muss Zwinkern, kleine Tiere knallen mir ins Gesicht, zerplatzen auf meiner Sonnenbrille. Wie gestern, erfasst mich ein Rausch. Es ist die Geschwindigkeit, die ganz besoffen macht, es ist die Schräglage in den Kurven, die Fliehkraft, es ist das Surren des Freilaufs. Es spornt mich an, schneller! Noch schneller! Noch schneller! Es dauert nicht lange und ich bin unten. Wow, was für ein Ritt!

Durch das Tal der Freiberger Mulde führte uns dieser schöne Abschnitt über die alte Bergbaustadt Altenberg in Richtung Zinnwald. Es ist kurz vor Mittag, die Sonne brennt, der Schweiß rinnt in Strömen. Wir rollen auf einer schnurgeraden top asphaltierten Straße durch den Wald. In sanften Wellen. Hoch und runter, hoch und runter. Fast 10 Kilometer lang kein einziges flaches Stück. Hoch und runter immer wieder. Ich brauche fast eine Stunde, den Wald hinter mich zu bringen. Auf der anderen Seite rolle ich hinab. Die Sonne habe ich nun im Rücken. Mein Nacken ist nass, alles läuft ins Trikot. Der Helm glüht, aber wenigstens muss ich nicht meine Augen zukneifen, denn die Lider schmerzen seit heute Morgen, als ich in die aufgehende Sonne gefahren bin. Ich habe noch Saft in den Beinen. Bislang stehen 75 Kilometer auf dem Garmin. Halbzeit der Etappe. Ich kann noch. Da geht noch was. Ein leckeres Eis, ein Espresso und die Flüssigkeitsbehälter aufgefüllt und weiter.

Das letzte Stück dieser Etappe will geschafft werden. 75 Kilometer noch. Nach unseren Verhältnissen ein Katzensprung. Aber hier, hier weiß man nie. Hier können dich 5 Kilometer so fertig machen, wie 50 daheim. So rollen wir hinein nach Zinnwald. Hier hatten wir bei unserer letzten Tour ein Rennradpärchen getroffen und waren im Jagdmodus übermütig berghoch gestürmt. Hauptsache vor den anderen ankommen…und dabei haben wir gar nicht mitbekommen, was hier für ein schöner Anstieg auf uns wartet. So abrupt, so unvorhergesehen stellt uns die Natur diesen Berg in den Weg. Es ist eine Steigung, wie ich sie bis hierher selten erlebt habe. Eine lang gezogene Linkskurve, die zu einer Rechtskurve wird und dann stark ansteigt. Der Berg ist nicht hoch, überhaupt nicht. 100, vielleicht 150 Höhenmeter, schätze ich, maximal. Wenn überhaupt. Aber er ist steil. Von einer Steilheit, dass instinktiv meine Knie schmerzen. Hier gibt es keine Schilder, die den Grad der Steigung in Prozent angeben. Wie auch? Der Staat würde Pleite gehen, alle paar Kilometer so ein Schild aufstellen zu müssen - die ganze Region wäre zugepflastert mit ihnen. Ich schätze, hier würde eines mit "13 %" aufgedruckt stehen, wenn nicht mehr. Schnell in den kleinsten Gang geschaltet. Noch geht es gut. Dann wird mein Tritt langsamer, der Druck an den Pedalen größer. Ich schnaufe, trete. Gebe alles. Schweißperlen stehen auf Stirn und Unterarmen. Meine Knie glänzen. Ich laufe aus.

Hälfte geschafft.

Weiß sammelt sich Sonnencreme, vom Schweiß weggespült, in den Beugen meiner Arme. Ich bin vollkommen außer Puste, als ich oben ankomme. Hinter der Linkskurve verschwinde. Den Höllenberg gemeistert habe. Ich habe dich besiegt, du Monstersteigung! Ich jubele. Schaue mich um, blicke hinab auf den Abgrund, den ich soeben bezwungen habe. Schwer atmend, weiche Knie. Die Waden brennen. Karte in den Automaten, stempeln, Foto, grinsen, weiter…

Wir setzen unsere Fahrt fort. Folgen der Straße, hier hoch oben direkt an der Grenze zu Tschechien. Faszinierend, was man alles so wieder erkennt. Die Erinnerungen an unseren ersten Stoneman sind noch taufrisch. Ich weiß, wann welcher Anstieg kommt und sogar noch, wie ich dort jeweils gelitten habe oder hochgeflogen bin. Jetzt ziehen sich die Kilometer. Jetzt merke ich deutlich die Länge der heutigen Etappe. Jetzt merke ich vor allem die vielen Höhenmeter. So kommt, was kommen musste.

Wieder schießt mir das Laktat so richtig in die Beine. Wir sind am Altenberger Eiskanal, der bekannten Rennschlitten- und Bob-Bahn, auf der sich sonst Weltmeister und Olympioniken in waghalsigen Abfahrten hinunterstürzen. Wir kämpfen uns entlang der Bahn nach oben. Schön in Zeitlupe im Wiegetritt. Der Erinnerung nach kommt jetzt gleich ein herrliches Stück bergab. Wir rollen durch Bärenfels - unserem Etappenort beim letzten Mal - und halten Ausschau nach einer Möglichkeit, unsere schon fast leeren Trinkflaschen aufzufüllen. Marc ist schon komplett trocken gefahren. Ich gebe ihm meine Trinkflasche und wie ein Verdurstender stürzt er die warme Brühe herunter. Er hängt an meiner Flasche wie der Junkie am Tropf.

Zum Glück geht’s nun zur Abwechslung mal flacher weiter. Auf diesen Abschnitt können wir schön Tempo machen, das tut mal richtig gut. Hier ist das „Tal der Ölmühlen“. Die älteste Ölmühle Deutschlands steht dort in Dörnthal. Jetzt heißt es Kräfte sammeln, denn der finale Hammer ist nicht mehr weit entfernt. Niederlauterstein - der letzte harte Anstieg des heutigen Tages - kommt näher. Wir wissen, was uns erwartet. Das wir jetzt eine 18%-Rampe hinauf müssen. Wissen, wie sehr wir beim letzten Mal gelitten haben. Dieser Berg wird einfach immer steiler und steiler. Und wir haben Durst. Alle Vorräte sind weg. Wir sind komplett leer. Am Fuß des Anstieges überlegen wir ernsthaft, ob wir uns da jetzt hochquälen sollen oder lieber außen herum, deutlich flacher, dafür ein paar Kilometer länger ins heutige Etappenziel nach Marienberg fahren. Zum Glück bekommen wir von freundlichen Einheimischen unsere Wasserflaschen mit frischem, eiskaltem Wasser aufgefüllt. Eine Wohltat. Wir trinken und trinken und merken, wie die Motivation zurückkommt. Niederlauterstein - dich bügeln wir platt!

Wir grinsen uns an und rollen in den Anstieg. Sofort auf dem kleinen Blatt. 10%, 12%, 14% und wir wissen, es wird noch steiler. Ich puste, drücke, kämpfe mich die Straße hinauf. Mitleidige Blicke folgen mir vom Straßenrand. In einem Vorgarten genießen kleine Kinder das erfrischende Bad im Planschbecken in der Abendsonne. Schon die ersten 2 Kilometer sind wie ein Tritt in die Magengrube. Ich muss stetig auf dem größten Ritzel fahren, um überhaupt vorwärts zu kommen. Die Prozente fallen nie unter 10%. Ich höre mich an wie eine Dampflok. Wie die Brockenbahn. Ich drehe mich um, Marc kann ich nicht erkennen. Wo im Anstieg der wohl gerade festhängt? Dann macht die Straße einen leichten Linksbogen. Oh, oh…jetzt wird’s richtig lustig. Hier kommen die 18%. Ich beiße. Und schwitze. Und schnaufe. Kurz und steil - das heißt sehr schnell weit oben sein. Geile Ausblicke ins Tal. Das Tretlager knarzt. Ich habe das Gefühl, das Vorderrad kommt hoch.

Noch 50, noch 30, noch 10 m und dann wird es flacher.

Jaaaaa, ich bin oben!

Es rollt, ohne dass ich trete. Ich habe es geschafft. Der letzte Berg des heutigen Tages. Schnell das obligatorische Selfie gemacht und nachdem Marc es auch geschafft hat, weiter auf die finalen Kilometer.

Und dann, irgendwann, steht es auf einem Schild: Marienberg 5 km. Nur noch 5 km bis ins Etappenziel. Das war er also, unser zweiter Tagesabschnitt. Schade, dass es schon vorbei ist. Wo ist die Zeit nur hin? Über 150 Kilometer sollen das gewesen sein? Fast 2.800 Höhenmeter? Unter sieben Stunden? Wahrlich eine Königsetappe.

Die letzten Kilometer könnte man ballern, wenn man keine Krämpfe hätte...ich jedoch bin ziemlich zu platt und so rollen wir geschafft, aber glücklich zu unserem Hotel.

Und als ich oben in meinem Hotelzimmer bin, habe ich ein großes Bad mit der besten Dusche, die ich jemals genossen habe! Oh, wie es zischt, als kaltes Wasser mir das Sonnenmilch-Schweiß-Fliegen-Gemisch von der Haut spült! Ich stehe einfach nur da und genieße das kühlende Nass. Lasse minutenlang das Wasser auf mich niederprasseln.

Was für eine Hitzeschlacht denke ich mir, als ich mich abtrocknen will, aber merke, dass ich das gar nicht muss, so schnell verdampft das Wasser selbst hier im kühlen Bad.
Und nun habe ich Hunger! Einen mordsmäßigen Hunger! Und Durst. Keine 30 Minuten später sitzen wir bei einem Italiener und schlemmen. Ist das nicht herrlich? Den ganzen Tag bei traumhaftem Wetter durch eine fantastische Landschaft gefahren, ohne Hektik, ohne Stress und nun, auf der Terrasse den Sommerabend genießend, sich mit allerlei Köstlichkeiten den Wanst vollstopfen? Das Leben ist einfach schön. Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch…bei den vielen heute verbrannten Kalorien ein Genuss ohne Reue. Wir lassen diese Etappe Revue passieren und finden, es war ein sehr langer, aber dafür auch wunderschöner Tag auf dem Rad.

Und so gehen wir glücklich und zufrieden zurück ins Hotel und kurze Zeit später schlafe ich bereits wie ein Stein.

Tag 3: von Marienberg nach Oberwiesenthal

Straße, du hast mich wieder. Heute steht eine kurze Etappe an. Ein Katzensprung. 80 Kilometer. Zunächst fahren wir eine Weile durch den Wald. Morgens eine Wohltat. Wir durchqueren ein wunderschönes Tal. Ruhig und spiegelglatt liegt der Fluss in seinem Bett. Links und rechts, bis hinter zum Horizont türmen sich dicht bewaldete Berge auf. Es ist die pure Freude, hier entlang zu fahren. So ein fantastisches Tal.

Die Steigungen sind kaum der Rede wert. Wir fliegen förmlich über die langgezogenen Wellen. Sogar zum Teil auf dem großen Blatt. Das macht Spaß, denn so kommen wir gut voran und haben sogar noch kühlenden Fahrtwind im Gesicht. Und so staune ich nicht schlecht, als ich nach erfreulich kurzer Zeit den ersten der Gipfel erfahren habe, oben ankomme, meine Karte abstempele und mich umblicke. Eine fantastische Aussicht. Und alle Berge in das typische Grün gehüllt. Auf manchen Hügeln, ganz weit hinten, im Norden, kann ich riesige Windräder erkennen.

Frohen Mutes trete ich rein - das Wetter, die Straßen - einfach alles ist perfekt! Das Erzgebirge, so kommt es mir vor, ist das Rennrad-Revier der Wahl! Die Straßen hier sind nagelneu, kein einziges Schlagloch, keine Welle, nein, nicht einmal Steinchen trüben heute den Fahrspaß. Und das Beste daran: Eine nagelneue Autobahn zieht nicht weit von hier ihren Weg - dort brummt der Verkehr. Auf unserer Straße hingegen herrscht tote Hose: Es ist, als wären wir allein.

Herrlich!

Wenig später versperrt ein riesiger Berg den Weg. Es geht hoch zu den Greifensteinen und so willige ich wohl oder übel ein, mich und mein Rennrad hinauf zu kurbeln - kein leichtes Unterfangen bei wieder mal geschätzten 30 Grad im Schatten - und von Schatten ist weit und breit nichts zu sehen. So gehe ich aus dem Sattel, schalte auf das kleine Kettenblatt und trete so gleichmäßig wie ich kann die Steigung ab. Es geht Meter um Meter höher, ich schaue links und rechts und sauge diese herrliche Gegend auf. Oben angekommen folgt das bereits bekannte Ritual: Karte raus, stempeln, Foto machen und weiter…

Gestern standen die Berge noch sehr eng und dicht beieinander, sodass der Blick nie wirklich weit streifen konnte. Hier und heute aber sind die Berge größer, die Entfernungen weiter und ich kann ein großes Gebiet überblicken. Es ist eine Ruhe, eine Weite, wie ich sie so nicht oft erlebt habe. Es fühlt sich ein wenig so an, als würde ich fliegen. Schnell reite ich durch den kühlenden Wald, schieße durch eine grüne Hölle. Wie Blitze tanzt das rasante Wechselspiel von Licht und Schatten auf meiner Sonnenbrille. Alles wackelt, alles fliegt, kaum Geräusche, nur der Wind, der mir um die Ohren knallt. Was kann es Schöneres geben, als eine solch seichte Abfahrt am Berg? Einen Anstieg? Kein Problem, der wartet direkt hinter der nächsten Kurve…

Regel Nummer 1 hier im Erzgebirge: Hast du einen Berg bezwungen, bekommst du zwei neue vor die Nase gesetzt. So geht das hier. Kilometer auf Kilometer. Stunde um Stunde. Harte Anstiege, rasante Abfahrten.

Ab und zu höre ich die Geräusche der über mir rotierenden Windräder. Jedes Mal, wenn eines ihrer gigantischen Rotorblätter die Sonne zerschneidet, huscht ein riesiger Schatten blitzschnell über die Straße, zerschneidet mich und mein Rad und verursacht ein kurzes Flimmern auf meiner Sonnenbrille. Ein majestätischer Anblick - so gelassen und doch so kraftvoll.

Die Fahrt geht schnell voran. Das Rennrad geht ab wie Schmidts Katze, ich kann Gas geben, komme mit 35 km/h superflott voran und trete mich schnell in einen runden Tritt. Radtrance am Vormittag, so muss das sein! Und obwohl die Sonne wieder heiß brennt, vermag sie heute nicht so viel Leid zu verursachen. Was daran liegt, dass die bewaldeten Berge nicht so massiv Wärme abstrahlen und wir durch unseren flotten Fahrstil gut vom Fahrtwind gekühlt werden. Obwohl der Wind langsam dreht - zunächst von der Seite, später von vorne kommend - habe ich beste Laune.

Was kann es schöneres geben, als frei und ungebunden durch die Lande zu treten? Nur den Drahtesel unter dem Hintern, den besten Kumpel an seiner Seite, frei, frei wie ein Wandervogel, frei, frei...ich atme tief ein, atme den Sauerstoff, die sonnengeschwängerte, flimmernde Luft und bin...einfach glücklich. So streifen wir durch diese wundervolle Landschaft und sind ein ums andere Mal beeindruckt von der Weite. Ich freue mich, halte ab und zu an und genieße einfach diese Aussicht, genieße es, das alles hier allein für mich zu haben, denn auch heute scheint wieder niemand hier im Erzgebirge unterwegs zu sein.

So geht es mit einem stetigen Auf und Ab dahin. Kurze, steile und giftige Anstiege durch eine bewaldete Hügellandschaft wechseln sich ab mit kleinen rasanten Abfahrten. Es ist einfach traumhaft. Nun bloß nicht überdrehen! Ja nicht übermütig werden - das kenne ich von anderen Bergen. Gerade gegen Ende einer Steigung, wenn der Kamm nur wenige hundert Meter entfernt ist, meint man, beschleunigen zu müssen. Meint man, nochmal anziehen zu müssen. Warum auch immer. Aber damit powert man sich aus, überdreht, setzt die ohnehin zum Zerreißen gespannten Sehen zu viel unter Spannung, provoziert schmerzhafte Krämpfe, versauert seine Muskeln, verschleudert sein letztes bisschen Kraft. Für nichts. Also: Bloß nicht überdrehen!

Wir rollen bis zur letzten Stempelstelle vor dem Fichtelberg, füllen unsere Trinkflaschen auf und essen noch einen Riegel. Liebevoll haben sie es hier hergerichtet. Ein Kühlschrank voller Getränke, ein paar Schokoriegel und sogar W-LAN. Wir setzen uns in die bereitgestellten Liegestühle und freuen uns auf das, was nun kommen wird.
Der finale Anstieg. Berg 33 von 33. Der Fichtelberg.

Ich mag ihn. Von weitem sieht dieser Anstieg harmlos aus. Fast wie weißes Geschenkband, das jemand um den Berg drapiert hat. Aber ich weiß es besser: Dies wird eine harte Rampe werden, und noch dazu eine lange. 13 Kilometer bis zum Gipfel. Ich mache mich bereit. Na, dann mal los, denke ich, schalte herunter und bin startklar für die finalen 600 Höhenmeter. Ich merke, wie das Fahrrad langsam von der Horizontalen in eine Vertikale übergeht. Wie sich die Nase hebt. Der Bug nach oben zeigt. Ich in den Himmel blicken kann. Und merke, wie unsichtbare Gummiseile an mir ziehen. Ich trete. Und trete. Und trete.

Ich bin wieder allein am Berg. Mit mir, mit dem Wind, dem Rauschen in den Baumwipfeln, fernen Geräuschen und allein mit dem Surren meiner Kette unter mir, dem stoßweise Atmen, meinen verkrampften Fingern am Lenker, dem Schweiß auf meinen Waden - allein.

Und dann geht es auch schon etwas steiler zur Sache. Waren die ersten Wellen nur belangloses Vorgeplänkel, geht es nun merklich nach oben. Kilometer 2 bis 4 sind okay, dann geht´s richtig steil bergan! Die kurvenlose Steigung hat mir beim letzten Mal fast den Nerv geraubt, denn die lange Gerade will kein Ende nehmen. Ab und zu wird sie ebenerdiger, dann hoffe ich. Manchmal fällt sie etwas ab, dann freue ich mich. Aber meistens geht es schon sehr bald wieder straff bergan - dann seufze ich und schalte zurück. Kurbeln, im Rhythmus, das ist jetzt die Devise.

Langsam fahren - an diesem Berg muss ich nicht schnell sein! Das weiß ich noch vom letzten Mal. Es ist der letzte Anstieg für heute. Das Sahnehäubchen auf eine traumhafte Etappe. Die steile Zugabe. Und das Ziel wartet schon. Ein schneller Blick zurück, ein Foto und weiter geht’s…

Plötzlich taucht vor mir ein anderer Rennradler auf. Die Rampe, die wir gerade fahren, ist nicht besonders steil und ich überlege kurz, ob es so sinnig ist, ein paar Körner mehr zu verschießen, nur um mein Ego zu beruhigen. Denn obwohl der Gipfel nur noch wenige Kilometer entfernt ist, sollte ich jetzt nicht überziehen. Aber meine Beine fühlen sich heute dermaßen gut an, dass ich es einfach mache. Raus aus dem Sattel. Ein Gang hoch. Ach was, einen zweiten Gang auch noch. Und dann treten. Gleich hab ich dich. Faszinierend, wie schnell man in der Steigung an Leute rankommt. Und auch von ihnen weg kommt. Kaum habe ich den Rennradler hinter mir, taucht vor mir plötzlich ein zweiter auf. Aber der ist kein lohnendes Ziel: Schon ist er abgestiegen und verschnauft.

Vor lauter Adrenalin, die dieser kurze "Angriff" durch meine Adern pumpt, habe ich gar nicht gemerkt, dass es wieder merklich steiler geworden ist. Und so setze ich mich in meinen Sattel und schalte wieder auf Normalmodus. Ich schalte zurück, trete leicht in einer hohen Frequenz, versuche einen Rhythmus zu finden, der angenehm ist. Es ist für mich keine Schande, jetzt nur 10 km/h an einer Steigung zu machen - ich bin nicht Marco Pantani, habe weder Profitraining hinter, noch Epo in mir. Also schön ruhig und langsam. Öfter auch mal Durchatmen und sich umschauen - die Natur ist atemberaubend.

Was mir immer wieder hilft, ist es, sich kleine Ziele zu setzen. Fluchen bringt nichts, im Gegenteil - der Frust und die Wut lassen mich verkrampfen. Irgendwann hänge ich dann zusammengekrümmt, brabbelnd und missgelaunt über dem Lenker und brülle mich die Steigung hoch. Und dabei vergisst man, nach links und rechts zu schauen, diese wunderbare Natur zu genießen, derer wegen ich hier bin, die mir kostenlos die schönsten Postkartenausblicke schenkt. Ich versuche, das Positive an einer Steigung zu sehen. Wer viel bergauf fährt, der wird viel bergab fahren. Und je steiler der Berg beim Aufstieg ist, desto steiler - und schneller - wird dann die Abfahrt. Dann lehne ich mich zurück, entspanne meine Rückenmuskulatur, verlangsame bewusst das Tempo und schaue weg, weg von der Straße, weg vom Asphalt, weg von 8 Prozent Steigung.

Und blicke hinüber zu den Bergen, wie sie majestätisch dastehen.

Und dann wird es flacher. Yes, ich bin oben, ich hab es geschafft. Letzter Anstieg erledigt. Anhalten. Beine lockern, Fotos machen. Karte raus, stempeln. Und wieder dieses mich durchströmende Glücksgefühl genießen. So muss sich Morphium bei starken Schmerzen anfühlen. Wohlige Wärme, alle Leiden weg, nur noch ein seeliges Glücksgefühl.

Der Gipfel des Fichtelberges im Sonnenschein. Was für eine krönende Kulisse am Ende des Stoneman Miriquidi Road auf dem Fichtelberg. Ein überwältigender Ausblick. Ich kann mich gar nicht satt sehen. Kilometerweites Panorama. Sattes Grün ringsherum. Dazu das strahlende Blau des wolkenlosen Himmels. Wahnsinn!

Ich recke stolz mein Rad in die Luft und Marc hält den Moment auf einem Foto fest.

Ich bin jetzt über eine Stunde im kleinsten Gang gefahren, sehe ich, als ich mir die Uhr beschaue. Was für ein Akt, eigentlich, oder? Und da erst merke ich, wie wenig mich diese Steigungen noch beeindrucken können.

Erzgebirgische Pultscholle, das war alles? Mehr hast du nicht drauf? Ehrlich, du musst Dir schon noch was anderes einfallen lassen, um mich noch außer Puste zu bringen.

Ein schönes Gefühl.

Noch einmal geht es nun in die Abfahrt, noch einmal lassen wir es richtig krachen, noch einmal knallt uns der Fahrtwind nur so mit voller Wucht um die Ohren, noch einmal fliegen wir mit Schallgeschwindigkeit bergab nach Oberwiesenthal, eine knallrote Pistolenkugel, ein Jagdflugzeug auf zwei schmalen Reifen. Ich nehme noch kurz im Augenwinkel einen Rennradler wahr, der sich die Steigung hinauf quält. Keine Zeit zum Grüßen. Wir schießen durch sattes Grün. Details nehme ich nicht war, alles verschwimmt zu einer einzigen, vorbeifliegenden grünen Masse. Kaum ist die erste Kurve durchfahren, schalte ich hoch und beschleunige. 35 Sachen, nächster Gang. Ich schalte gleich zwei auf einmal. 45, der Wind faucht und schlägt auf die Ohren. 50, ich kann mein Jauchzen kaum mehr verstehen, so laut ist der Fahrtwind. 55, die nächsten Kurven reite ich in Schräglage ab. Ich habe die Hände an den Bremshebeln, tue aber einen Teufel, die Geschwindigkeit zu verringern. 70 km/h! Ich fliege. 75 km/h! Mein Herz rast. Frischer Wind, es duftet. Ich schreie vor Freude, im Rausch des Speed und fliege auf die Abzweigung zu. Runterkommen, runterbremsen und links ab nach Oberwiesenthal.

Das war´s. Schluss, aus, vorbei. Das war die letzte Etappe des Stoneman Miriquidi. Und was für eine. So harmlos, so flach als Talfahrt begonnen, und am Ende rissen mir die Berge hier so richtig schön den Arsch auf! Ich schaue noch einmal auf die Strava-Aufzeichnung und rufe mir die Bilder von heute ins Gedächtnis. Nochmal fast 1.800 Höhenmeter auf nicht mal 80 Kilometern.

Wow, das waren geile Berge! Verdammt geile Berge!

Und das Beste?

Es gibt ja noch eine „Verlängerung“. Auch wenn wir jetzt hier im Hotel unsere Trophäe in die Hände gedrückt bekommen, unsere Tour ist ja hier noch nicht zu Ende. Wir fahren ja noch eine Etappe. Unsere ganz eigene Etappe. Außerhalb des Stoneman Miriquidi. Morgen, hinein nach Tschechien. Unsere Extended Version. Geil, denn auch diese Runde hat es nochmal in sich. Nochmal geht’s „leicht hügelig berghoch“ u.a. den 10 Kilometer langen Anstieg hinauf zum 1.244 Meter hohen Klinovec (Keilberg), dem höchsten Berg im tschechischen Teil des Erzgebirges.

Ich grinse breit und schaue stolz auf meinen Stein.

Tag 4: Von Oberwiesenthal hinein nach Tschechien

Ich wache auf und sehe die Stoneman-Trophäe auf dem Nachttisch. Sofort sind all die schönen Bilder wieder da. Bärenstein, Drei Brüder Höhe, Schwartenberg, Zinnwald, Niederlauterstein, Fichtelberg. All die schönen Kilometer für dieses eine Ziel. Diesen Stein. Und nun steht er hier. Ein wohliges Gefühl durchströmt mich.

Und heute gibt’s die Zugabe.

Heute geht’s nach Tschechien. Geplant sind 120 Kilometer mit nochmal über 2.000 Höhenmetern…hinein in ein mir unbekanntes Land. Marc schwärmte im Vorfeld von diesem Fleckchen Erde. Ich war sehr gespannt. Zusätzlich wollen wir noch den Klinovec einbauen. Wenn wir schon mal hier sind, dann müssen wir den höchsten Berg des Erzgebirges einfach fahren. Vom Fichtelberg aus konnten wir ihn sehen. Groß und majestätisch stand er da. Ich hatte zwar von den vergangenen Tagen etwas müde Beine, aber wenn wir erst mal unterwegs wären, würde es sicherlich gehen. Also los, wir haben viel vor.

Wir rollen, noch etwas verschlafen, durch Oberwiesenthal und sehen plötzlich Ausschilderungen in einer unbekannten Sprache. Waren wir etwa jetzt schon in Tschechien? Wo war denn hier die Grenze? Wir sind doch noch in Oberwiesenthal? Oder? Die Grenze zu Tschechien ist in der Tat nicht auszumachen. Kein Schild, kein Stein, einfach nix. Nahtlos geht’s hier in das Nachbarland und natürlich auch gleich wieder stramm bergan. Der Ausschilderung nach sind es nur knapp 10 Kilometer bis zum Gipfel des Klinovec. Und so kurbeln wir uns in den Tag, morgens halb zehn in Tschechien. Die Sonne gibt schon wieder ihr Bestes und ehe wir uns versehen, sind wir bereits wieder über 1.000 Meter hoch. Hinter uns Oberwiesenthal, über uns ein wolkenloser, blauer Himmel, unter uns feinster Asphalt und vor uns eine leere Steigung. Der Anstieg zum Klinovec lässt sich super fahren. Nicht zu steil, tolle Straße, kein Verkehr…klar, wer will um diese Uhrzeit auch da hoch? Vereinzelt sehen wir ein paar Wanderer, das war´s.

An diesem Anstieg bleiben wir mal zusammen und quatschen uns hinauf. Marc kennt den Berg schon und erzählt, wie fertig er beim letzten Mal hier hoch war. Damals war es der Abschluss einer richtig langen, schweren Etappe. Heute ist es der Beginn eines langen Tages. Wir sind noch frisch und so erreichen wir recht zügig den Gipfel.

Wow. Einfach nur wow!

Mir fehlen die Worte, diese Aussicht zu beschreiben. Was für ein Panorama. Es sieht aus, als würde uns die ganze Welt zu Füßen liegen. Wunderschön. Ich kann mich gar nicht satt sehen. Wie herrlich, wie perfekt, wie sensationell diese Kulisse! Tschechien präsentiert sich hier von seiner besten Seite. Und mit LTE! Warum ich das schreibe? Nun, auf unseren bisherigen Touren mussten wir immer wieder verdutzt feststellen, dass die Netzabdeckung in Deutschland eher mau ist - wenn man es freundlich ausdrücken möchte. Selbst auf dem Fichtelberg, mit seinen riesigen Sendemasten, hatten wir keinen Empfang. Und hier - fast wie auf unserer gesamten Runde durch Tschechien - gab es LTE. Verrückt.

So haben wir die Möglichkeit, unsere Lieben daheim am frühen Morgen schon mit tollen Fotos von diesem Panorama zu beglücken. Wir können fast den gesamten Verlauf unserer heutigen Tour sehen, genießen diese unfassbare Stille hier oben und grinsen uns an. Es sind Momente wie dieser, weshalb ich so unglaublich gern berghoch fahre. Und das ist erst der Anfang. Unsere heutige Runde soll eine richtige Genießertour werden. Bilder und Aussichten vom Allerfeinsten. Futter für die Seele. Richtiges Kino. Ganz großes Kino. Wir sind voller Vorfreude, fahren wieder bergab und biegen auf die eigentlich geplante Route ein. Die ersten Kilometer sind sehr entspannt. Wir rollen leicht wellig auf einer perfekten Straße ohne Autoverkehr auf ein Waldstück zu und sind zunächst etwas skeptisch, als der Garmin anzeigt, dass wir nun rechts abbiegen sollen. Wir sehen zunächst gar nicht, wohin uns der Radcomputer schicken will. Ein sehr kleiner, unscheinbarer  Weg führt mitten in den Wald hinein.

Wir biegen ab und müssen kurz danach schon den Lenker richtig festhalten. Hier geht’s ohne Vorwarnung verdammt steil bergab. Ein vielleicht 2 Meter breiter Waldweg, katastrophal asphaltiert, mit fiesen Löchern und Fugen und dabei 8-10% Gefälle. Alter Schwede, wer denkt sich denn sowas aus? Links und rechts tiefer dunkler Wald. Licht und Schatten im ständigen Wechsel. Wir trauen uns nicht, die Bremsen loszulassen. Hoffentlich sind wir auf dem richtigen Weg, denn anderenfalls müssten wir ja hier wieder hoch…

Mit Dauerbremsen und zittrigen Knien kommen wir nach einer gefühlten Ewigkeit fast auf Meereshöheniveau an und staunen ungläubig über diese Strecke. Aber wir sind richtig und so geht’s aus dem Wald heraus nun ein kurzes Stück entlang einer Europastraße, ehe wir rechts abbiegen, dem Verkehr den Rücken zukehren und uns plötzlich in einer anderen Welt wiederfinden.

Vor uns liegen etliche Kilometer schnurgeradeaus, keine Autos weit und breit, keine Menschen - ja, wenn ich so darüber nachdenke, noch nicht mal Tiere. Wo sind die Leute hin? Was ist hier passiert? Wir kommen durch wahre Geisterdörfer. Kleine, richtig kleine Ortschaften, teilweise nicht mehr als 3-4 Häuser, alles ziemlich verfallen und dazwischen unendlich weite Flächen pure Landschaft und dazu eine perfekte Straße. Man hat das Gefühl, hunderte Kilometer in die Ferne sehen zu können. Und das, obwohl wir in der Ebene unterwegs sind. Es geht in eine steppenartige Umgebung wenige Meter über den Meeresspiegel.

Wir fahren nebeneinander, bestaunen diese unwirkliche Szenerie und kommen ziemlich zügig voran. Leicht abschüssig. 1 bis 2 Prozent Gefälle, zwar mit Gegenwind, aber es rollt sich gut. Wir wechseln uns im Wind ab, treten rein. Im Paarflug im Gegenwind. Wir sind allein auf weiter Flur. Aber hey, es ist kurz nach Mittag, die Sonne steht am heißesten Punkt und es verwundert mich kaum, dass hier nichts und niemand unterwegs ist.

Wir haben nun ein relativ flaches Stück vor uns, können ewig weit nach vorn schauen. Es geht weiter nach Süden. Ein herrliches Fleckchen Erde hier, still, fast abgeschieden vom Rest der Welt. Unter mir surren die Carbonlaufräder, heiße Luft strömt durch den Helm - was kann es Schöneres geben?

Genau zehn Kilometer lang ballern wir nun stramm in den Gegenwind - Zähne zusammengebissen und reingetreten. Marc im Unterlenker vorne weg und ich an seinem Hinterrad. Hier ist er wieder in seinem Element. Flach und gerade, da läuft der große Diesel auf Hochtouren. Stoisch kurbelt er mit einem dicken Gang, liegt auf dem Lenker und tritt seine Wattzahlen, als wäre es das leichteste der Welt. Die Tachonadel zeigt konstant über 30 km/h und er macht keine Anstalten, aus dem Wind herauszuwollen. Wahnsinn, was der treten kann, sobald es mal eben geradeaus geht. Mir kommt das entgegen, denn ich habe heute irgendwie dicke Beine und muss nun in seinem Windschatten nicht viel Druck aufs Pedal bringen. Ich nutze diesen Abschnitt, um meine Blicke abseits schweifen zu lassen und diese Umgebung zu genießen.
Nach all den Bergen der letzten Tage tut es mir richtig gut, mal wieder weit bis zum Horizont gucken zu können. So sehr ich die Berge liebe, so sehr genieße ich jetzt mal den Blick in die Ebene.

Die Straßen scheinen, wenn es einmal wieder über eine der seichten Wellen leicht bergan geht, im Himmel zu verschwinden. Und ich bin jetzt so in Trance, dass ich nichts dagegen hätte. Es dauert noch eine Stunde, die wir in der Sonne brutzeln und den Asphalt gerade bügeln, ehe wir wieder auf andere Menschen treffen. Ein Treckerfahrer schickt sich an, eines der riesigen Felder zu mähen. Wir kommen durch eines der Dörfer - nix los, ist ja auch Mittagshitze - als wir vor uns einen kleinen Laden entdecken, der selbst hergestelltes Eis anbietet. Ein Blick, ein Lächeln und na klar halten wir an.

Wir genießen ein irrsinnig leckeres Eis und einen schön starken Espresso und stellen dabei wieder mal fest, wie gut es uns geht.

Zufrieden rollen wir weiter auf das nervigste Stück unserer Etappe zu. Vor uns liegt ein riesiges Industriegebiet, es riecht nach Chemie, das Atmen wird zum Stechen in den Lungen. Keine Ahnung, was sie hier produzieren, aber es stinkt mir! Wir erreichen Chomutov, eine wirklich nicht allzu schöne Stadt mit dichtem Großstadtverkehr, mit stinkenden LKW´s, schlechten Straßen und roten Ampeln. Aber auch einem Supermarkt, wo wir unsere wieder mal fast leeren Trinkflaschen auffüllen können. In fast schon italienischer Manier geht es heiß her auf den Straßen - da wird beschleunigt, gefahren, gebremst, abgebogen, nicht geblinkt, gehupt, gestikuliert und wild durcheinander gefahren, das mir Angst und Bange wird.

Wir sehen zu, dass wir so schnell wie möglich aus diesem Moloch herauskommen. Dieser Verkehr und diese Hitze sind einfach unerträglich! Und wir staunen nicht schlecht, als wir direkt am Stadtrand, vorbei an einem kleinen Flüsschen, in ein Waldstück einfahren und - natürlich - gleich wieder mit einer schönen Steigung begrüßt werden. Schöner Berg, nettes, verlassenes Tal. Kein Verkehr - eigentlich ganz nett hier. Noch ahnen wir ja nicht, wie lang es hier bergan geht. Wir fahren in einem Märchenwald. Zauberhaft.

Kilometerlang geht’s nun stetig bergan und ich merke deutlich, dass wir nun schon den vierten Tag nacheinander unterwegs sind und auch schon wieder 80 km in den Beinen haben. So langsam aber sicher schwinden meine Kräfte. Es ist so heiß, dass ich selbst bei offenem Trikot kaum Erfrischung erfahre. Mein Trinken ist wieder nur noch heiße Plörre. Erbarmungslos treibt die Sonne den Schweiß aus allen Poren. Stetig tropft er aufs Oberrohr. Merklich verlangsamt sich meine Geschwindigkeit - und merklich steiler wird die Strecke. Bleiernde Müdigkeit kriecht die Beine hoch. Langsam, ohne Druck fahre ich. Marc ist hinter mir außer Sichtweite. Jetzt beginnt das große Leiden. Ich rette mich von Kurve zu Kurve. Anfangs noch sehr steil, flacht es dann nach 5 Kilometern etwas ab, bei "nur" noch 4-5%. Ich bin richtig außer Puste. Mein Puls auf 180. "Shut up, Legs", feuere ich meine Beine an...wir sind doch extra hierhergekommen, um Berge zu fahren. Also genieße es, rede ich mir selbst Mut zu. Zum Genießen der Landschaft fehlt mir allerdings fast die Luft. Ich komme mir hier gerade ziemlich elend vor, aber ich versuche trotzdem, ganz bewusst, eine Prise dieses unvergleichlichen Harzduftes zu nehmen, zu schmecken, zu fühlen. Oder die Ausblicke in tief geschnittene Täler zu genießen - allem Schmerz zum Trotz.

Es ist einfach überwältigend schön hier!

Es ist das, was wir suchen. Es ist das Gegenteil unseres Alltags. Es ist pures Leben auf der Suche nach dem inneren Seelenfrieden.

Unerbittlich glüht die Sonne über mir, Schweiß sammelt sich unter meinem Helm und Unterarme und Beine glänzen überzogen von einem Film meiner eigenen salzigen Flüssigkeit. Noch mehr Steigung. Noch mehr knallharte Sonne. Noch mehr Schweiß. So langsam aber sicher merke ich, wie meine Stimmung kippt, wie ich anfange, diesen Anstieg zu verfluchen. Ich bin einfach alle. Hinter mir höre ich einen Freilauf rattern. Was ist das denn? Ich bin mitten im Anstieg und hinter mir lässt einer rollen? Hat Marc mich etwa eingeholt? Panisch drehe ich mich um und sehe ein Mädel, vielleicht 25 Jahre alt, ganz locker mit ihrem E-Bike an mir vorbeiziehen. Ich bin so baff, dass ich noch nicht mal grüßen kann. Und ehe ich mich versehe, ist sie hinter der nächsten Kurve verschwunden. Ich schüttele den Kopf und trete stoisch weiter.

Einen Kilometer später zieht mir jemand endgültig den Stecker.

Ich bin platt. Kann nicht mehr. Schweiß steht mir im Gesicht, ich kann schon längst weder kräftig antreten, noch in irgendeiner Form schnell fahren - das hier ist nur noch purer Wille zum Ankommen. Mehr nicht. Die Sonne - zunächst willkommen, jetzt einfach nur Hölle! Hier sterbe ich den Hitzetod. Fast.

Jetzt nervt einfach alles. Die Anstiege nerven, die Hände schmerzen, meinen Rücken merkte ich ebenfalls, die lästige Fliege, die vor meiner Nase tanzt und mich wahrscheinlich auslacht, macht mich wahnsinnig. Den inneren Schweinehund zu besiegen, gehört zu so einer Tour dazu. Der Stoneman Miriquidi ist da keine Ausnahme. Ich versuche, mich zusammenzureißen. Wieder zeigt der Radcomputer Steigungen von 10, 11, 12% an.  Zwei Kilometer noch. Zweimal eintausend Meter. Das klingt wenig. Zwei Kilometer. Wenn einen jede Kurbelumdrehung aber nur 20 Zentimeter weit bringt, und selbst diese eine, winzige Umdrehung richtig weh tut, dann ziehen sich diese zwei Kilometer in endlose Länge. Dann werden aus zwei Kilometer plötzlich fünftausend Umdrehungen. Fünftausend Mal ächzen und stöhnen. Fünftausend mal Schmerzen.

Friedrich der II sagte einst: „Lerne leiden ohne zu klagen.“ Ich versuche es, aber dieser beschissene Berg hier nimmt kein Ende! Immer mehr, immer höher, immer härter!
Neben mir ein kleiner Stausee, idyllisch mitten im Wald, eine wahre Pracht, die mich hier aber nicht interessiert, zu sehr brauche ich jetzt jedes Sauerstoffmolekül, zu wenig von diesem kostbaren Gas können meine heißen Lungen aus dieser ätzenden, heißen Luft hier filtern. Wenige Meter noch, denke ich mir, nur noch zehn, neun, acht Umdrehungen. Nein, doch nicht, wohl eher zwanzig - unendlich lang kommt mir dieser Anstieg hier vor, unendlich, diese Quälerei. Kein Foto kann diese Steigung abbilden. Teilweise geht mein Garmin in den Pausen-Modus, so langsam trete ich Zentimeter für Zentimeter in die Pedale.

Ich danke Gott, als ich oben ankomme.

Keine Ahnung, wie hoch ich hier bin. Keine Ahnung, wie viele Kilometer dieser gottverdammte Anstieg hier lang war - ich bin oben, krieche auf dem Zahnfleisch die letzten Meter entlang und stelle mein Rennrad an einen Baum.

Und nun? Nun hocke ich hier. Schweiß tropft mir von der Nase. Mein Gesicht ist verschmiert vom Schmutz der Straße. Mein Leid, grenzenlos. Ich bin total fertig. Und ich meine nicht "geschafft", ich meine - ich bin durch, bin Mausetot.

Als wir diesen Anstieg beendet haben, ist meine Stimmung endgültig auf dem Nullpunkt. Es ist die Hölle. Unangenehm heiß und windstill. Ich bin gar gekocht, schwimme im Schweiß und fühle mich elend. Aber wir müssen weiter, sind noch längst nicht am Ziel. Gierig leere ich meine Trinkflaschen - hoffentlich gibt’s gleich eine Möglichkeit, die Flaschen wieder aufzufüllen - und verschlinge gleich zwei Riegel auf einmal. Dann wuchte ich mich widerwillig aufs Rad und kurbele weiter.

Der Wald wird lichter. Hinter einer Kurve, die an einem blanken, steilen Felsen vorbei führt, hört er ganz auf. Wir kommen aus dem Schatten heraus. In die freie, blanke Sonne. Einerseits ist es befreiend, denn ich fühle die Höhe - mehr als einmal musste ich Schlucken, um den Druck in den Ohren auszugleichen. Jetzt hier oben, ohne Bäume zu radeln ist wie die Bestätigung der Höhe. Gleichzeitig ist es unerträglich, mir brutzelt es das Hirn weg. Fast scheint es, dass die paar hundert Meter, die wir jetzt über Meeresniveau sind, die Intensität der Strahlen verdoppelt hätten. Ich bin einem Hitzschlag nah. Ich hoffe auf eine Tankstelle. Auf ein Café. Auf einen Supermarkt - irgendwas! Ich brauche dringend Essen und vor allem Trinken. Viel Trinken!

Aber es kommt nichts.

Stattdessen kommen weitere Steigungen - harte, giftige Anstiege. Stattdessen brennt die Sonne unerbittlich weiter und es gibt kaum Schatten. Was nützt mir der grandiose Ausblick, wenn ich hier auf absoluter Reserve fahre? Wir halten an und Marc reicht mir seine Trinkflasche. Ich stürze die warme Brühe runter und hoffe, dass die Flüssigkeit nicht verdampft, bevor sie im Magen ankommt. Wie weit es wohl noch sein wird? Garmin sagt: noch 30 km. Meine Laune sinkt weiter. Ich kann nicht mehr, ich will auch gar nicht mehr. Selbst als wir den nächsten Kackberg geschafft haben. Ich bin einfach platt. Ich hänge mich bei Marc in den Windschatten und rechne mit noch einer Stunde bis ins Ziel. Tatsächlich dauert es noch fast zwei quälend lange Stunden, die ich mich in heißester Hitze mal auf unsagbar schlechten Straßen durch verschlafene Orte und mal durch verlassene Gegenden entlang eines einsamen Waldes kämpfen muss.

Langsam wird jede kleine Bodenwelle zum Hindernis. Pedalumdrehung für Pedalumdrehung kurbelte ich vor mir hin. Endlich kommt ein Gefälle. Hier fahre ich mit fast 40 km/h. Es fühlt sich unglaublich schnell an, nach einer gefühlten Ewigkeit im Schritttempo berghoch. Allerdings kann mich der fantastische Anblick dieser Landschaft kaum noch motivieren - weich gekocht in der Birne identifiziere ich routiniert schöne Aussichtspunkte, halte, zücke mein Handy, mache ein Foto und fahre weiter. Stupider Naturkonsum, leere Augen, wie im Wachkoma nehme ich alles nur noch wie am Rande wahr. Rings herum sieht es nun nach Steppe aus. Trockene Felder, wohin das Auge blickt.

Marc, eigentlich einer, der lange fahren kann, sieht nun auch schwer angeschlagen aus. Es ist heute einfach nur heiß - mein Garmin spuckt einen Durchschnitt von 32 Grad Celsius aus. Ich nehme an, das Gerät misst im Schatten, denn die der Sonne ausgesetzten Teile der Straße sind an manchen Stellen weich - Asphalt schmilzt ab wann...?
Die Sonne brennt so unerbittlich herunter, dass jegliche Ambition, hier einen auf Leistung zu machen, sofort ausgebrannt wird. Ich sehe, wie sich meine Oberarme rot verfärben. Mir hängt schon die Zunge raus: Trinken, trinken! Apropos: Wo ist denn nun verdammt nochmal die nächste Erfrischungsstation? Schon lange sind meine beiden Flaschen leer. Es sind zwar nur noch knapp 10 km, aber ich brauche jetzt ganz dringend etwas zu trinken. Am Straßenrand sehen wir eine kleine Bar. Ohne etwas zu sagen halten wir beide zeitgleich an. Ich klicke aus und komme kaum noch vom Rad. Mir tut alles weh: Beine, Füße, Rücken, Kopf, Nacken, Hände. Kaum gehen kann ich mehr.

"Aaaaah, wie herrlich!", stöhne ich, lasse mich ächzend in einen der Stühle fallen, pelle die schweißdurchtränkten Handschuhe von meinen Fingern und kippe hastig die 2 eiskalten Mirindas herunter, die Marc soeben auf den Tisch gestellt hat. Ich atme genüsslich durch. Trinken, einfach nur trinken. Füße ausstrecken und trinken. Und gierig verschlinge ich auch gleich nochmal zwei Riegel. Fast 30 Minuten brauche ich, um meinen Blutzuckerspiegel wieder anzuheben, mich aufzubauen und meinen Magen zu füllen. Sicher: Riegel und Limonade sind kalorisch gesehen nicht gerade die beste - aber nun wirklich auch nicht die allerschlechteste Sportlernahrung.

Etwas gestärkt rolle ich zurück auf die Straße und nehme den Rest der Strecke in Angriff. Nach Oberwiesenthal hinein führt unser Weg nochmal einen Anstieg hinauf, den man eigentlich gar nicht beschreiben kann. Wer bitte denkt sich sowas aus? Nochmal geht’s mit 12% im Schnitt (!) berghoch. Sprachlos wuchte ich die Kurbel rum. Nochmal so ein fieser Kanten zum Schluss. Nach 125 km und weiteren 2.200 Höhenmetern. Schocken kann mich das nicht mehr. "Boah! Scheiße!", fluche ich, als ich endlich zur Stonemanfigur vor dem Prijut 12 komme - augenblicklich, quasi noch auf der Straße, halte ich an, klicke  aus und bleibe stehen. Alles, nur keinen einzigen Zentimeter mehr auf dem Rennrad sitzen!

Kurz hinter mir bremst Marc, ich klopfe ihm auf die Schulter: "Gut gemacht", will ich sagen, aber ich bringe keinen Ton raus, so fertig bin ich - er weiß, was ich meine, und nickt - Schweiß steht ihm auf der Stirn. Ich versuche, beim Absteigen von meinem Rennrad, keinen Krampf zu bekommen.

Wir sind am Ziel. Am Ziel des Tages, am Ziel der Tour - und am Ziel unserer Wünsche. Wir klatschen uns ab und strahlen um die Wette. Was für eine Plackerei. Welcher Moment könnte schöner sein als dieser? Nach einem epischen Tag auf dem Rad. Nachdem ich es meinem inneren Schweinehund mal so richtig besorgt habe. Ich sitze im Gras, blinzele in die Sonne und versuche zu begreifen, was wir hier die letzten 4 Tage geschafft haben.

Über 450 km mit fast 8.600 Höhenmetern. Für „Flachlandniedersachsen“ wie uns war das mal ein richtig dickes Ding.

Und jetzt durchströmte auch wieder dieses wohlige Gefühl den Körper. Dieses Gefühl, etwas ganz Besonderes geschafft zu haben. Etwas, dass viele nicht mal versuchen werden. Etwas, wovon andere nur träumen, es aber nie in Angriff nehmen. Etwas, dass uns keiner mehr nehmen kann. Die vielen tausend Eindrücke, die sich auf meiner inneren Festplatte eingebrannt haben. Das pure Glück, hier und jetzt zu sitzen. Vergessen sind all die Strapazen der letzten 50 km. Dieses Glücksgefühl überdeckt alles.

Und noch ein anderes Gefühl macht sich lautstark bemerkbar. Hunger!!! Also fix unter die Dusche und dann schnell zum ortsansässigen Italiener. Und siehe da, nach einem riesengroßen Salat, einer Pizza und dem Kaiserschmarn zum Nachtisch war alles wieder gut. Die Lebensgeister waren wieder da und übermütig fragte ich Marc, wo wir denn morgen hinfahren wollen. Dass dabei meine Beine krampften, konnte er zum Glück nicht sehen…

So ließen wir diesen Abend in aller Ruhe bei einem leckeren Alster ausklingen und machten uns am nächsten Tag, ausgeschlafen und glücklich und zufrieden auf den Heimweg. Ach ja, auf der Heimfahrt haben wir schon Pläne geschmiedet, wann wir das nächste Mal ins Erzgebirge fahren. Also lasst euch überraschen…